16. März 16
Wenn eine/r eine LernReise tut ...
Wenn eine/r eine LernReise tut …
… dann kann er oder sie nicht nur "etwas erzählen", sondern hat die Gelegenheit, in ganz besonderer Weise Erkenntnisse zu gewinnen – sofern das Reisekonzept einige Mindestbedingungen erfüllt: qualifizierte Vorbereitung, ein abgewogenes Reiseprogramm, Gelegenheiten für intensiven Austausch, Raum für eigene Entdeckungen und nicht zuletzt eine kontinuierliche und angeleitete Reflexion in der Reisegruppe – darüber mehr später.
Hier geht es mir zunächst einmal um den speziellen Erkenntnisprozess, den die LernReise-Teilnehmer(innen) individuell und als Gruppe durchlaufen. Die einzelnen Schritte folgen der Logik des Lernzyklus nach KOLB, umfassen jedoch auch kollektive Reflexionen zur Einstimmung und Fokussierung sowie zur Deutung und Sinnstiftung der Beobachtungen:
- Eigenbezug reflektieren – die eigenen Sichtweisen und Fragestellungen schärfen: Eigenes Erkenntnisinteresse, Wissensbestände und "Bilder" zum Reise- bzw. Besuchsziel reflektieren sowie in der Reisegruppe austauschen und daraus gemeinsame Beobachtungsfragen entwickeln.
- Informationen und Eindrücke aufnehmen – auch bisher schwer oder nicht Denkbares "wahr"nehmen: Bei Site Visits und Expertenbeiträgen ganzheitlich beobachten, aktiv zuhören, Informationen und Eindrücke notieren, Bezüge zu anderen Beobachtungen herstellen.
- Hintergründe erkunden – so viel wie möglich verstehen und möglichst wenig bewerten: Im Gespräch mit den Gastgebern bzw. Interaktionspartnern Eindrücke zurückmelden und offenen Fragen nachgehen. Eine besonders wertvolle Erkenntnisquelle sind hier "Kultur-Mediatoren", d.h. Personen mit reflektierten Erfahrungen in den Kulturkreisen des Gastgeberlandes und des Herkunftslandes der LernReisegruppe.
- Hypothesen bilden und Erkenntnisse überprüfen – umfassende Verantwortung für das eigene Wissen als Gestalter persönlicher Erkenntnisse übernehmen: Eigene Eindrücke und Hypothesen in der Reisegruppe austauschen und abgleichen, weiterführende Beobachtungsfragen fokussieren, die eine Überprüfung und Differenzierung der Hypothesen ermöglichen.
Um diese Lernschritte wirksam werden zu lassen, sind eine Reihe von Einstellungen auf Seiten der Teilnehmer(innen) förderlich: Zuallererst eine offene, forschende Haltung, sich fremden Sichtweisen und Praktiken mit möglichst wenig Vorannahmen anzunähern. Die dazu erforderliche Ambiguitätstoleranz läuft dem menschlichen Grundbedürfnis nach schneller Orientierung in ungewohnten Umgebungen zuwider, kann jedoch durch kleine Erkundungsübungen zu prototypischen Praktiken gefördert werden, die einen "ethnologischen" Blick erfordern, wie z.B. zur Funktion des Teetrinkens in türkischen Geschäftsbeziehungen.
Zur Nutzung der Teilnehmergruppe als Resonanzboden für den eigenen Lernprozess ist das Interesse an der Mitteilung und dem Abgleich eigener Eindrücke und Erfahrungen in der Reisegruppe notwendig. Dies läuft zum Teil dem Bedürfnis nach Abgrenzung und individueller Erholung entgegen und sollte daher durch angenehme Rahmenbedingungen, zeitliche Begrenzung und anregende Fragestellungen der Gruppenreflexionen gefördert werden.
Eine weitere Haltung ist die Bereitschaft, auch aus vordergründig "fremden Welten" Hinweise abzuleiten, die für das eigene professionelle Handeln eine Bedeutung haben. Die Gegentendenz, sich Bestätigung für eigenkulturelle Praktiken aus dem Kontrasterleben in einer anderen Umgebung abzuholen, kann relativiert werden, indem die funktionalen Hintergründe der eigen- und anderskulturellen Praktiken ergründet werden. Die dabei zutage tretenden Präferenzunterschiede, wie z.B. Einhaltung von Standards und Regeln (Universalismus) vs. flexibles Einstellen auf die Situation (Partikularismus) erleichtern die Erkenntnis, dass die unterschiedlichen Praktiken in einem gegenseitig bereichernden Spannungsverhältnis stehen und sich entsprechend (eigenkultur“kompatibel“) verändern lassen.
Und damit wäre ein wichtiger Schritt getan, nach einer LernReise nicht nur "viel zu erzählen", sondern auch anders zu handeln.