18. Dezember 18
Hin zu ... mehr Selbstorganisation?
Weg von...
Die gute alte Zeit ... Wer vermisst sie nicht manchmal ein wenig? Das gilt auch für Unternehmen, die sich gerne daran zurückerinnern, als alles etwas gemächlicher ablief und man noch ein wenig Zeit zum Denken hatte. An Zeiten, in denen der Wettbewerb nicht so gnadenlos global war wie heute und in denen auch Kunden nicht so viel Transparenz hatten und daher nicht so viele unangenehme Fragen stellten. Doch diese Zeiten sind mit der Digitalisierung nun wohl endgültig vorbei, ebenso wie die klassischen Formen der Organisation und der Führung, die sich doch so gut über mehr als ein Jahrhundert der Industrialisierung bewährt haben. Die hierarchische Command-und-Control-Struktur nach preussisch-militärischem Vorbild, aber auch die tayloristische Arbeitsteilung stoßen in einer von der Generation Y und Wissensarbeit geprägten Gesellschaft immer mehr an ihre Grenzen.
Viele Unternehmen aber auch andere Organisationen, bis hin zum Militär, wollen oder müssen weg von lieb-gewonnenen Prinzipien und Prozessen, weg von den Paradigmen der traditionellen Führung, die teilweise schon längst durch neueste Gehirn- oder Sozialforschung ad absurdum geführt wurden und trotzdem noch immer weit verbreitet sind. Sie wollen weg vom zunehmenden Stress der permanenten Optimierung des Status-Quo, der bei nicht wenigen Mitarbeitern und Führungskräften zum einen oder anderen Burn-Out führt. Doch ein "weg" alleine reicht nicht in Organisationen, die in Verantwortung für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ihre Kundinnen und Kunden, ihre Eigentümer und der Gesellschaft stehen. Sie brauchen auch ein klares "Hin zu", um guten Gewissens loslaufen zu können.
... hin zu ...
Das "Hin zu" scheint aktuell die "Selbstorganisiert-agile Organisation" zu sein, kurz "SO...agile" Organisation. Ein Begriff, der für mich den aktuellen Pol am besten beschreibt, zu dem sich Organisationen unterschiedlichster Branchen und Größen hinbewegen. Schließlich verbindet man damit zufriedene Kunden, schnellere und zahlreichere Innovationen, sich selbst steuernde Teams und anders agierende Führungskräfte. In Europa und USA scheint man in agilen Methoden und Selbstorganisation die Lösung aller Probleme zu sehen. Sogar amerikanische Eliteeinheiten organisieren sich in Form eines Team-of-Teams, das schnell, flexibel, wendig und selbstorganisiert gefährliche Spezialeinsätze bewältigt. Methoden und Berater gibt es inzwischen genug, die immer neue Formen und Facetten der neuen Welt anbieten.
Und wie nun?
Was mir bei meinen Klienten aktuell auffällt ist, dass bei vielen der Konzepte die Rechnung ohne den Wirt gemacht wurde. Dementsprechend groß ist dann auch die Ernüchterung nach der ersten Euphorie. Einige dieser Probleme sind nicht mit immer neuen Methoden zu bewältigen, sondern nur mit einer konsequenten Selbst- und Fremd-Beobachtung und -Steuerung und manchmal nur mit systematischer, agil-systemischer Begleitung im Prozess "... hin zu ... mehr SO...Agilität".
Unsicherheit oder Passivität im Top-Management
In vielen Unternehmen werden SO...agile Initiativen aktuell nicht vom Topmanagement, sondern quer von HR und OE Einheiten initiiert. Das Top-Management versteht aber Agilität oft als etwas, das es im operativen Geschäft und in den Prozessen auf Arbeitsebene zu verankern gilt und nicht als signifikanten Werte- und Haltungswandel, der von oberster Ebene vorgelebt und aktiv statt nur passiv-beobachtend getrieben werden muss. Hier sind Aufklärungsarbeit und Coaching gefragt, die von Agile Coaches der 20er/30er-Generation oft nicht geleistet werden können. Es braucht m.E. erfahrene systemische Beraterinnen und Berater, die einerseits selbst über Jahre in den klassischen Strukturen gearbeitet haben und andererseits versiert im Umgang mit neuen agilen Konzepten sind, um diese gut vermitteln zu können. In Summe braucht es "systemisch-agile" Profis mit Wissen und Erfahrung, denen es gelingt, dem Topmanagement nicht nur betriebswirtschaftliche Vorteile oder methodische Konzepte zu vermitteln, sondern die Sicherheit und den Mut geben, sich aktiv auf den "SO...agilen" Weg zu machen.
Unsicherheit und Angst im Mittel-Management
In einer SO...agilen Organisation kommt dem Mittelmanagement eine andere Rolle zu, als bisher. In vielen Konzepten der Selbstorganisation gehen Führungsaufgaben auf die Teammitglieder selbst über. Führungskräfte verlieren damit einige ihrer bisher identitätsstiftenden Aufgaben wie die Steuerung des Teams über Planung und Kontrolle oder über Entscheidungen, die nun das Team selbst trifft. Zudem geht auch die Einheit von Mitarbeiterführung und Geschäftsverantwortung von Führungskräften verloren. In einigen SO...agilen Konzepten kümmern sich die klassischen Führungskräfte nicht mehr um die Fach- und Sachaufgabe (hierzu gibts nun Product Owner), sondern "nur noch" um ihre Mitarbeiter. Dieser Wandel ist gerade für jene Führungskräfte herausfordernd, die sich in der Vergangenheit stark über das Geschäft und nicht über die Führungsaufgabe identifiziert haben. Fällt erstere nun weg, geraten sie häufig in eine Existenzkrise und sorgen sich, dass die Führungsaufgabe "alleine" wohl keine persönliche Erfüllung oder ausreichende unternehmerische Wertschöpfung bieten kann. Dabei ist es gerade diese Aufgabe, die bei SO...agilen Organisationen hilft, Teams über das Gesamtunternehmen hinweg zu vernetzen, die Mitarbeiter zu entwickeln und zu befähigen, ihnen bei der Arbeit zur Seite zu stehen und proaktiv für eine zukunftsfähige Gestaltung des Pools an Humanressourcen zu sorgen.
Verunsicherung oder Hilflosigkeit bei den Betroffenen
Doch auch für die betroffenen Teams stellt die SO...agile Organisation nicht immer nur die hochgelobte Befreiung aus allen Managementzwängen dar. So benötigen die an das Team zusätzlich übertragenen Führungsaufgaben nicht nur zusätzliche Zeit, die es auch in der Dimensionierung zu berücksichtigen gilt. Es bedarf ebenso neuer und anderer Kompetenzen, um diese Aufgaben gut für das Team und für sich selbst erledigen zu können. Schließlich brauchen viele Mitarbeiter, die bisher eine starke Top-Down Steuerung erlebt haben mehr Mut, nun selbst zu entscheiden und die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, ohne sich bei jedem Schritt auf eine starke Führungskraft verlassen zu müssen oder zu dürfen. Dies kann leicht zu Verunsicherung bis hin zu Hilflosigkeit führen, wenn die neuen Verantwortlichkeiten und Rollen für Teams unklar bleiben oder ganz einfach die Kompetenzen bei den Mitarbeitern fehlen. Hier gilt es im Prozess der Einführung der "SO...agilen" Organisation bei aller Selbstorganisation den Übergang schrittweise und systematisch zu planen und zu professionell zu begleiten.
In den SO...agilen Initiativen, die ich in letzter Zeit begleiten durfte, zeigen sich alle drei geschilderten Ebenen als wichtige Felder der Beobachtung und Intervention. Da gerade radikale Veränderungen oft den internen Blick auf die Dynamik des sozialen Systems der eigenen Organisation versperren, kann ein externer Blick mit fachlicher und systemischer Expertise helfen, besser und schneller in einen SO...agilen Zustand überzugehen.