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10. März 20

Organisationen für ambidextre Herausforderungen designen

Ambidextrie (Beidhändigkeit) wird zunehmend zum "new normal": Die Kunst der gleichzeitigen Orchestrierung von Exploitation, der systematischen Effizienzsteigerung des bestehenden Geschäfts und Exploration, der Erweiterung der Geschäftsmöglichkeiten durch den Einstieg in neue Geschäfte, die Entwicklung innovativer Produkte, Dienstleistungen oder Geschäftsmodelle ist zu einem Kern-Paradigma geworden.

Warum ist Ambidextrie heute so wichtig?

Hintergrund für das in jüngster Zeit gestiegene Interesse an dem Konzept - das es übrigens schon seit längerem gibt (siehe March 1991, Tushman & O'Reilly 1996) - ist die offensichtliche Zunahme von disruptiven Entwicklungen in diversen Branchen wie Einzelhandel, Medien, Automobil etc. Ein wesentlicher Teil dieser Entwicklungen ist auf den Einfluss der Digitalisierung von Produkten und Dienstleistungen, aber auch von Geschäftsmodellen zurückzuführen. Die jahrzehntelang von Effizienzstreben geprägte Wettbewerbsdynamik findet heute mit ungekannter Wucht parallel in einer zweiten Disziplin statt: Innovation.

Die erfolgreiche Zukunft moderner Organisationen erfordert also die Meisterschaft in zwei Disziplinen: Exploitation ist die Fähigkeit einer Organisation, sich effizient auf die aktuellen Geschäftsanforderungen auszurichten und beinhaltet z.B. Investitionen in die bestehenden Kundenbeziehungen, um in der Gegenwart Gewinne zu erzielen. Das umfasst häufig Aktivitäten wie etwa operational Excellence, Lean Management, Marketing Excellence etc.

Exploration ist die Fähigkeit einer Organisation, über die vorhandenen Kompetenzen hinaus zu innovieren. Sie verlangt häufig Investitionen in die Entwicklung von neuen Technologien, neuen Märkten, neuen Produkte oder Dienstleistungen und/oder neuen Kunden und umfasst etwa die Anwendung von Design Thinking Prinzipien, die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, das Denken in Ökosystemen und die unternehmensübergreifende Zusammenarbeit in Ökosystemen. Exploration fokussiert Geschäfte, die weiter vom aktuellen Kerngeschäft entfernt sind. Das Innovation Stream mapping ist dabei ein hilfreiches Instrument zur Klärung der strategischen und organisatorischen Anforderungen (siehe Grafik).

Abbildung: Innovation Stream Map

Vom Entweder-Oder zur Prozessperspektive - Disziplinen der Selbsterneuerung

Das ambidextre Exploitation-Exploration-Dilemma scheint nahezulegen, dass es um eine Entscheidung für die eine oder andere Seite ginge. Praxis und Forschung bieten aber inzwischen eine Fülle an Erfahrung und Orientierung jenseits der Hypes um isolierte Innovationsmethoden und Geschichten von Garageninnovationen, die scheinbar schnelle - aber einseitige - Lösung verheißen.

Versteht man die beiden Aspekte der Ambidextrie als unverzichtbare Bestandteile organisationaler Selbsterneuerung, so bietet eine Prozessperspektive praktische Ansatzpunkte, um die Paralyse eines Entweder-Oder zu überwinden und konkrete Schritte zur Beidhändigkeit zu beschreiben.

Dabei geht es nicht zuletzt um drei Kompetenzen:

  1. Die Fähigkeit zur Ideenentwicklung - ein Prozessschritt, der die Festlegung der Ambition und Strategie zur Exploration und der Generierung von neuen Geschäftsideen mit dem Potenzial zur Realisierung der Strategien beinhaltet. Oftmals sind dabei Methoden wie Design Thinking und eine breitere Einbindung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein Kernelement.
  2. Fähigkeiten der Validierung oder Inkubation, bei der intensive Kundeninteraktionen, schnelles Prototyping und schnelle Iterationen erforderlich sind, um neue Geschäftsideen zu testen und zu validieren - einschließlich des Wissens, wann man die Ideen rasch beerdigen oder sie skalieren sollte.
  3. Die Skalierungsfähigkeit, d.h. die Kompetenz, erfolgreiche Experimente in profitable Geschäfte umzusetzen und nachhaltig Wachstum und Profitabilität für das Unternehmen zu generieren.

Zum Design von beidhändigen Organisationen

Wissenschaft und Praxis sind sich einig, dass eine klare strategische Ausrichtung, Topmanagement Commitment und eine verbindende Identität der Explore- und Exploit-Bereiche unerlässlich für erfolgreiche Beidhändigkeit sind. Es ist aber auch unumstritten, dass die tatsächliche Gestaltung der konkreten Organisation sehr kontextabhängig ist.

Weil Exploit- und Explorationsgeschäft unterschiedliche organisatorische Strukturen erfordern, müssen Manager oder Managementteams ihr Organisationsdesign entlang ihrer jeweils eigenen strategischen Anforderungen oder Organisationsdesignkriterien entwickeln. Ambidextrie wirft bei der Organisationsentwicklung unter anderem folgende Fragen auf:

  • Werden wir unsere Innovationsabteilungen oder Start-ups strukturell vom Kerngeschäft trennen oder nahe am Kerngeschäft positionieren?
  • Wie gehen wir mit Themen um, die "quer" zur formalen Struktur behandelt werden müssen und sowohl das Kern- als auch das Innovationsgeschäft betreffen?
  • Wie fördern wir eine erfolgreiche Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen den beiden Bereichen? 
  • Welche Art von horizontalen Verknüpfungen (z.B. gemeinsame Meetings oder Prozesse) zwischen dem Kern- und Innovationsgeschäft verwenden wir - oder auch gerade nicht?
  • Was sind Kompetenzen und Anforderungen an Führungskräfte und Mitarbeiter, die sowohl im Kern- wie auch im Innovationsbereich arbeiten?
  • Mit welchen Zielen und Anreizen arbeiten wir in Bezug auf Exploitation und Exploration? Wirken sich diese Aktivitäten kurz-, mittel- oder langfristig förderlich oder hinderlich auf das Kerngeschäft und die Innovation aus?

Der osb-i Organisationsdesign-Navigator zeigt die Gestaltungsdimensionen an, die das Management beim Design der Organisation für die Beidhändigkeit berücksichtigen sollte.

Abbildung: Gestaltungselemente des Organisationsdesigns

Der Lernweg Organisationsdesign vermittelt Herangehensweisen, Instrumente und Erfahrungen für die wirksame ambidextre Aufstellung von Organisationen.

Literatur

Nagel, R. (2017): Organisationsdesign. Schäffer-Poeschel

O'Reilly, C. A., & Binns, A. J. (2019): The Three Stages of Disruptive Innovation: Idea Generation, Incubation, and Scaling. California Management Review

O'Reilly, C. A., & Tushman, M. L. (2016): Lead and Disrupt: How to Solve the Innovator's Dilemma. Stanford University Press.

Schumacher, T., & Wimmer, R. (2018): Gleichzeitig optimieren und neu erfinden. Zum produktiven Miteinander von Innovationslabs und etablierten Unternehmen. OrganisationsEntwicklung, 1, 10-17

Tushman, M. L., & O'Reilly III, C. A. (1996): Ambidextrous Organizations: Managing evolutionary and revolutionary change. California management review, 38(4), 8-29

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