15. Dezember 20
Virtuelle Zusammenarbeit - die Baustellen besser erkennen
von Udo Kronshage, Hans Gärtner, Stephan Dohrn
Viele Beratungsprozesse erfolgen schon seit geraumer Zeit "mehrgleisig" - zwischen direkten Kontakten und der Gestaltung virtueller Prozesse und Kooperation. Die massive Beschleunigung der letzten Monate hat Kund*innen in neue "Räume" geworfen. Intuitiv reagieren Führungskräfte, Berater*innen und Organisationen wie auch sonst in plötzlich unüberschaubaren Situationen: sie suchen nach vertrauten Mustern, modifizieren zunächst ihre gewohnten Handlungen und entscheiden so, als würde das alles wieder vorübergehen.
Wir sind überzeugt, dass die Virtualisierung der Zusammenarbeit und Steuerung in deutlichen Anteilen bleiben wird, mit allen Zwischenformen, die wir aktuell als "hybrid" beschreiben. Wenn diese Veränderungen also keine vorübergehende Episode sind, müssen wir genau hinschauen und die neue Situation in den Teams und Organisationen besser verstehen als bisher. Für die Situationsanalyse nutzen wir ein Modell, dessen Begrifflichkeiten geprägt sind von langjähriger Forschung durch Karen Sobel Lojeski, Ph.D. und Richard R. Reilly, Ph.D.
Jede Organisation ist mit ihren eigenen, spezifischen Anforderungen in der Virtualisierung ihrer Zusammenarbeit konfrontiert. Teams haben unterschiedliche Bedarfe, um sich angemessen auf die Herausforderungen der Virtualisierung einzustellen, alle müssen auch in der neuen Umgebung schnell handeln! Und das mit einem möglichst zielgerichteten Einsatz von Ressourcen wie Zeit, Engagement, Geld, möglichst sofort und in überschaubaren Schritten - wie es sich eben empfiehlt im Umgang mit komplexen Anforderungen (Dazu sind übrigens die Beschreibungen des Cynefin-Modells von Snowden/Boone nützlich).
Die Situation differenziert beschreiben
In einer Bestandsaufnahme schauen wir auf die wahrgenommene Distanz im jeweiligen Team, suchen die Quellen, aus denen eine für erfolgreiche Zusammenarbeit dysfunktionale Distanz entsteht. Wir unterscheiden 3 Dimensionen mit insgesamt 11 Einzelfaktoren, die auf das Distanzerleben besonders starken Einfluss haben: Die physische Distanz (Physical), die operative Distanz (Operational) und die soziale Distanz (Affinity). Die physische Distanz ist die naheliegende, an die man sofort denkt, wenn man das Wort Distanz hört. Sie umfasst alle Faktoren, die auf realer räumlicher oder zeitlicher sowie struktureller Entfernung beruhen.
Hinter den operativen Distanzfaktoren verbergen sich konkrete Eigenschaften einer Arbeitssituation, die mit der Gestaltung von Arbeitsprozessen und der Nutzung technischer Möglichkeiten zusammenhängen. Sie umfasst die kommunikativen Abstände, die durch Alltagsprobleme in den Arbeitsprozessen anwachsen.
Im Gegensatz zur physischen ist operative Distanz "flüssiger". Sie beschreibt die im operativen Alltag unterschiedlich auftretenden Kommunikationsprobleme, die zu dem Gefühl führen, mit dem Gegenüber nicht richtig verbunden zu sein. Das können technische Probleme sein, Probleme der Arbeitsbelastung oder das Gefühl, nicht einen gleichberechtigten Anteil an einer Unterhaltung im Vergleich zu anderen Organisationsmitgliedern zu haben.
Am wenigsten unmittelbar sichtbar sind Faktoren der sozialen Distanz, die mit der Beziehungsgestaltung der Personen zu tun haben. Sie haben aber den größten Einfluss auf das Erleben virtueller Distanz in einem Team und sind, wenn sie denn Störungsquellen sind, schwerer zu beeinflussen als die beiden erstgenannten Dimensionen.
Den Elefanten zerlegen
Es gibt keine Blaupause für die Lösung von Distanzproblemen, dafür sind die meisten virtuellen Teams in ihrer Binnenstruktur zu unterschiedlich. Das wichtigste ist, den "Elefanten, der unsichtbar im Raum steht" und Distanz schafft oder verstärkt, sichtbar zu machen. In der Beratung beginnen wir mit einer Diagnose, in der wir die einzelnen Distanzfaktoren in allen drei Dimensionen ansprechen und sie grob quantifizieren. Aus der Zusammenschau aller Faktoren ergibt sich für ein Team eine Gesamt-Distanz mit Hinweisen auf Verursacher erschwerter Aufgabenbearbeitung. Die differenzierte Bewertung im Team erlaubt es, "Baustellen" zu identifizieren und Maßnahmen zur Verbesserung zu planen. Die von uns verwendeten Faktoren sind in der Grafik abgebildet und haben sich als besonders einflussreich auf eine erfolgreiche virtuelle Zusammenarbeit erwiesen. In der gemeinsamen Reflexion der Einzeleinschätzungen (Führungskreise und Teams) und der Erarbeitung von Handlungsoptionen liegt der größte Nutzen des Verfahrens, die Quantifizierung der Distanzfaktoren dient dabei einer schnelleren Übersichtlichkeit. Während alle drei Dimensionen in ihrem Zusammenspiel große Auswirkungen auf den Erfolg der Zusammenarbeit haben, kreiert jede Dimension für sich noch keine große Störung virtueller Zusammenarbeit. Sie beeinflussen sich aber wechselseitig und addieren sich in ihren Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit eines Teams oder einer Organisation.
Den Blick weiter schärfen
Noch gibt es nicht genügend Routine, die Vielfalt an Einflüssen auf erfolgreiche virtuelle Zusammenarbeit in den Teams zu lokalisieren und zu bewerten, insbesondere wenn man die Kommunikationspartner oder Teammitglieder selten oder nie persönlich trifft. Und (wie meist) gibt es auch hier keine einfache Gleichung ("Weniger Distanz = mehr Leistungsfähigkeit")! Ziel der Beratung ist eine bessere Balance zwischen "zu viel" - "angemessen" - "zu wenig" virtueller Distanz, ausgerichtet an den Aufgaben, die zu bewältigen sind und den Entwicklungen des Teams in seiner virtuellen Zusammenarbeit.
Weitere generelle Überlegungen zum "new normal" beschreiben Hans Gärtner, Stephan Dohrn und Udo Kronshage in "Das New Normal in der Zusammenarbeit"
Eine differenzierte Beschreibung der Dimensionen und Faktoren, die zur virtuellen Distanz in Teams und Organisationseinheiten beitragen, findet sich in unserem Blogbeitrag "Der Umgang mit Distanz in der virtuellen Zusammenarbeit"