28. März 17
Was von Führung übrig bleibt
... wenn Selbstorganisation die Lösung ist
(Post-) Moderne Organisationen sind irritiert, weil ihre überkommenen Selbstbilder, die auf der Grundidee des tayloristischen Organisationsverständnisses als Mindsets aufbauen, dazu führen, dass ihre Prognosen und Planungen unzutreffender werden und durch das "Fahren auf Sicht" ersetzt wird. Sie erleben ihre Umwelt als unberechenbarer und dynamischer und verlieben sich in Agilität, Industrie 4.0, Big Data, Artificial Intelligence, Innovation Hubs und Mindset Changes als Lösungsansätze. Gleichzeitig nimmt die Zuversicht ab, komplexe Organisations-Umwelt-Prozesse steuern zu können und die Idee der Selbstorganisation als Lösungsansatz rückt in den Fokus. Begriffe wie "Weisheit der Vielen" oder "Schwarmintelligenz" gewinnen Anhänger bis ins Top Management von Weltkonzernen.
Dabei kann die Frage, was von Führung übrig bleibt, drei unterschiedliche Betonungen erfahren:
- Was von Führung übrig bleibt: der eher depressive Blick auf den traurigen Rest von Führung, wenn der Roboter die automatisierbaren Teile der Führung übernommen hat und das Heil in der sich selbst organisierenden Organisation gefunden wird.
- Was von Führung übrig bleibt: der gar nicht so harte Kern von Führung, wenn der Bombast des Heroischen und Charismatischen weggenommen und die Organisation der Selbstorganisation zur Aufgabe wird.
- Was von Führung übrig bleibt: die Wirkung von Führung, nachdem Führung geführt hat.
1. Der depressive Blick
Der Automatisierungsgrad in der Administration steigt. Praktisch gehen heute schon viele automatisierbare Managementaufgaben auf Maschinen über, während sich die Lösung der Markt- und Innovationsprobleme auf die Expertenebene verlagert. Führung, so könnte man sagen, wird um den administrativen und den innovativen Teil entleert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach Rolle, Funktion und Aufgabe von Führung neu. Ist Führung überhaupt noch notwendig und wenn ja, worin besteht ihre Funktion? Die bisherigen Experimente dazu sind nicht sehr erfolgversprechend und finden ihre Grenze am unbearbeiteten Entscheidungsbedarf. Dabei spielt die Risiko- und Eigentumsfrage eine wichtige Rolle. Wie das folgende Beispiel zeigt, kommen manchmal überraschende Antworten auf die Fragen nach der Funktion von Führung aus Organisationen, bei denen man sie zuletzt vermutet hätte.
2. Der harte Kern: Organisation der Selbstorganisation
Beispiel 1: Selbständigkeit in einem Telekommunikationsunternehmen
Der Callcenterbereich ist ein Arbeitsfeld, das hochgradigen Regularien unterliegt. Unternehmen versuchen im kritischen Kontakt mit ihren oft verärgerten Kundinnen und Kunden etwas gut zu machen. Dazu stellen sie Personen ein, bezahlen sie schlecht und schreiben ihnen auf vielfältige Weise vor, was sie zu sagen und wie sie sich zu verhalten haben, um die Beziehung zum Kunden ins Positive zu drehen, ohne dass es das Unternehmen allzuviel kostet. Gesteuert wird dies durch eine Vielfalt von harten, messbaren Zielen und einem darauf bezogenen Belohnungssystem. Eine Situation, die an das Kohleschaufeln erinnert, an dem Fredrick Winslow Taylor seine Idee des Scientific Management entwickelte und damit die moderne Organisation prägte.
Dieses Modell scheint an eine Grenze gekommen zu sein. Die Zielerreichung nähert sich einem Grenzwert, der nicht weiter gesteigert werden kann. Das "Karotten-Modell" der Steuerung durch Belohnungsmaßnahmen wie variable leistungsbezogene Vergütung greift nicht mehr und wird (siehe Grenzwert) sogar zu einem kontraproduktiven Faktor. Auch die totale Nachvollziehbarkeit der Aktionen (Kontrolle) in Kombination mit detailliertem Verhaltenstraining verfehlt die erwünschte Richtungsänderung. Das Management reagiert mit neuen Zielen und forciert die Selbständigkeit und die Verantwortlichkeit. Das bedeutet, dass es seinen Steuerungspunkt verlagert von der Verhaltenssteuerung (Tue dies!) auf die Steuerung des Kontextes: Entscheide selbst unter der Zielsetzung, die Kunden zufriedener zu machen.
Exkurs: Von der vertikalen zur horizontalen Organisation: Selbstorganisation als Grundprinzip
Die Welt "ist" VUCA. Agilität, Innovation, Responsiveness und Speed sind die organisationalen Antworten. Dazu muss sich allerdings die Organisation von einer vertikalen hin zu einer horizontalen Organisation wandeln (vgl. D. Baecker) und verstärkt auf Selbstorganisation und -steuerung setzen. Dazu braucht es Führung - aber anders. Hierarchische Logiken, wo oben entschieden und unten gearbeitet wird, sind zu langsam. Die Verlagerung von Verantwortung auf die Ebene der Leistungseinheiten ist das neue Prinzip. Oder wie Otto Scharmer es ausdrückt, dass v. a. jene Organisationen erfolgreich sein werden, die "eine Toleranz für Randexperimente" entwickeln. Aber was macht dann Führung? Das klingt so, als müsste, wer auch immer, sozialen Systemen beibringen, sich selbst zu organisieren. Das tun soziale Systeme aber laufend, indem sie sich fortwährend für den Selbsterhalt an ihre relevanten Umwelten anpassen, Strukturen bilden und Entscheidungen entstehen lassen. Systeme bringen Lösungen für Probleme der relevanten Umwelt hervor. Diese werden mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen entwickelt. Dabei bilden sich Muster bzw. Routinen aus, die der inneren Logik des Systems folgen. Infolge dieser "prinzipiellen Geschlossenheit" gegenüber ihrer Umwelt konstruieren sie ihre Wirklichkeit selbst. Demzufolge hat dies fast nichts mit der Welt draußen zu tun. Das Auf-sich-selbst-bezogen-sein versperrt dann oftmals den Blick auf die Anforderungen, die sich aus den Bedarfen und Notwendigkeiten der Umwelt ergeben. Und hier kommt Führung ins Spiel. Sie sorgt dafür, dass das System sich mit den relevanten Informationen versorgt, die einen Unterschied machen (G. Bateson). Diese Art der Irritation verstehen wir als Dienstleistung für das System. Beispiel
2: Steuerung über Kultur und Verhalten
Das Chemieunternehmen strukturiert sich gerade um und entwickelt in diesem Zusammenhang eine neue Verhaltenskultur mit vier Kernverhaltensweisen, deren Ziel eine andere Organisation ist:
- Collaboration
- Trust
- Experimentation
- Customer Focus
Man kann das lesen als eine Abkehr vom Kontrollparadigma der klassischen Organisation und eine Hinwendung zur Betonung des Zusammenhangs des Leistungsprozesses:
"Collaboration" gelingt nur auf Augenhöhe, wenn die Machtunterschiede gering sind und auf der Basis von Freiwilligkeit im Kontext wechselseitiger Nützlichkeit.
"Trust" als Mechanismus zur Komplexitätsreduktion kann man sich wünschen, aber nicht anweisen. Vertrauen entsteht auf der Basis gemachter guter Erfahrungen miteinander.
"Experimentation" ist ein klares Signal der Anerkennung einer Realität, deren Merkmal Nichtkontrollierbarkeit ist und die das Herantasten an das, was wirkt, als die Methode der Wahl hält.
"Customer Focus" setzt als Orientierungspunkt die Quelle des Zahlungsstroms und begreift, dass nur die Zufriedenheit des Zahlenden Grundlage für den Erfolg ist. Implizit wird mit der Nichtsteuerbarkeit des Kunden gerechnet und darauf reflektiert, wie die Beziehung anders gestaltet werden muss, so dass ersprießliche Geschäftsbeziehungen entstehen können.
Eine Führung, die dieses Zielbild entwickelt, scheint verstanden zu haben, dass das Durchsteuern von oben sein Ende gefunden hat und dass der Einfluss von Führung auf Rahmensetzungen wechselt, die Konnektivität ins Zentrum stellt: alles ist Beziehung.
3. Die Wirksamkeit von Führung
Wenn Selbstorganisation das Prinzip von Systemen ist, dann geht es darum, diese Fähigkeit im Sinne der Ausrichtung auf das gemeinsame Ziel zu "begrenzen".
Damit ist die Herausforderung von Führung die Koordination der Leistungserbringung im Blick auf das WIE. Diese Art der Führung nennen wir Kontextsteuerung.
Kontextsteuerung als Führungsprinzip
Im Kern bedeutet dies, dass Führung ...
... in der Verantwortung steht, die Unübersichtlichkeit der VUCA-Welt in einen Sinnzusammenhang mit dem Beitrag der eigenen Organisation (im Sinne einer Antwort auf die Probleme der Umwelten) zu stellen und damit für Sinn, Orientierung und Ausrichtung zu sorgen.
... für die Arbeitsfähigkeit der Leistungseinheiten und deren Koppelung zu allen relevanten internen und externen Stakeholdern sorgt.
... sich im Sinne des operativen Handelns "überflüssig" macht. Das neue Führungssystem ...
... koordiniert die Koordination der Leistungserbringungen und beseitigt im Sinne einer funktionalen Verantwortung relevante Organisationsblockaden durch Entscheidung.
... verlagert möglichst viele Entscheidungen aus dem Zentrum an die Peripherie und auf die Leistungseinheiten. Dabei hilft die Vergrößerung der Führungsspanne!
... versteht sich als Dienstleistung für die operativen Einheiten und stärkt die Selbstorganisation durch Enthaltsamkeit. Kommunikation ist dabei das Mittel der Wahl. Die kreative, zieldienliche Gestaltung sozialer Situationen wird zum Kern von Führung und bedeutet auf Seiten der Führung, eher Fragen zu stellen als Antworten zu geben, die sich in VUCA-Welten ohnehin nicht kausal ergeben und darüber den Leistungsprozess anzuregen.
Führung als Dienstleistung
Große Internetfirmen, aber auch eine Reihe kleinerer Unternehmen entwickeln, wenn man Laloux folgt, ein anderes Binnenverhältnis zu Führung: Führung versteht sich dabei als Dienstleistung mit dem Ziel, die Potentiale der Eigensteuerung freizusetzen und die Leistung beim Kunden zu neuen Höhen zu führen. Selbst im amerikanischen Militär werden Führungsprinzipien erfolgreich genutzt, die an buddhistische Haltungen ("Hands off" und "Letting go") und systemtheoretische Überzeugungen ("Leading like a gardener") erinnern. (McChrystal, 2015: Team of Teams).