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14. Juli 15

30 Fragen zur Innovationsfähigkeit

Ein schnell wachsendes Familienunternehmen im Bereich Handel will überprüfen, wie zukunftsfähig die eigenen Organisationsstrukturen sind. Dabei sollen auch Routinen für Selbstbeobachtungsfähigkeiten im Managementsystem etabliert werden.

Ein ehemals kommunales Energieunternehmen ist gefordert, sich auf neue Geschäftsfelder im Bereich der erneuerbaren Energien auszurichten und überregional zu agieren. Gleichzeitig sollen neue Entwicklungen des Marktes und ihre internen Implikationen im Blick gehalten werden.

Beides sind Anfragen zur Change-Unterstützung. Gibt es auch eine Gemeinsamkeit?

Beide Unternehmen streben eine Form "absichtsvoller" Veränderung an, die wir als "vorausschauende Selbsterneuerung" bezeichnen und die im Kern die Frage nach der Selbstreflexions- und Innovationsfähigkeit einer Organisation stellt. Mit dieser Form des Changes soll die Lern- und Innovationsfähigkeit einer Organisation nachhaltig sichergestellt werden. Sie sollte daher "ständig mitlaufend" und langfristig in Organisationen verankert sein bzw. werden - unabhängig von Ereignissen, die eine schnelle Reaktion erfordern und eine kurzfristige Veränderung auslösen.

Vorteil und gleichzeitig Problem der vorausschauenden Selbsterneuerung ist, dass sie vordergründig nicht eilt und die Verantwortlichen nicht zum Handeln drängt: Steht ein Unternehmen aktuell gut am Markt da, verfügt es über einen erkennbaren Wettbewerbsvorteil und laufen zudem die Geschäfte gut, existiert vermutlich auch kein erkennbarer oder gefühlter Veränderungsdruck. Wettbewerbsvorteile sind jedoch stets nur ein Vorsprung auf Zeit. Das ist bei Produkt-Innovationen der F&E schnell ersichtlich. Im Hinblick auf die Gestaltung von Prozessen oder Organisationsstrukturen oder gar im Zusammenhang mit "Kulturfragen" rund um Kooperation oder Führung werden die Auswirkungen einer zu langsamen Veränderung auch erst langsam spürbar. Ist allerdings der Wettbewerbsvorteil in diesen Bereichen erst einmal kaum merklich abgeschmolzen, ist er nur langsam wieder auf- und auszubauen.

Mit einer Change-Initiative zu vorausschauender Selbsterneuerung soll zweierlei sichergestellt werden: Erstens sollen dauerhafte organisationale Kompetenzen als Quelle eines nachhaltigen Wettbewerbsvorteils aufgebaut werden und zweitens die Fähigkeit zu schnellen Veränderungen und raschem Aufbau neuer organisationaler Fähigkeiten und Leistungspotenziale - sogenannter "Organizational Capabilities" (s. T. Schumacher, 2013). Es geht also im Kern um das Erhöhen der Lernfähigkeit von Organisationen und das Erhalten der eigenen Veränderungsfähigkeit.

Damit könnten idealerweise viele aus kurzfristiger Not getriebene Veränderungsprozesse in ihrer Dynamik entschleunigt oder vorausschauender und planvoller gestaltet werden. Es geht also um langfristige Prävention statt permanenter krisenhafter Not-Operationen.

Vorausschauende Selbsterneuerung nimmt die Erneuerung ernst:

  • Es geht ans "Eingemachte" - darum, etwas "wirklich anders" zu machen als bisher und nach neuen Regeln zu spielen. Das ist für jede Organisation eine Zumutung: Wer verabschiedet sich schon freiwillig und gerne von gut eingeschwungenen (und aktuell vermutlich auch funktionierenden) Regeln der Kommunikation, Kooperation und Entscheidung? Wenn die Notwendigkeit solcher expliziten Musterwechsel nicht akzeptiert wird, ist das Risiko groß, dass die angestrebte Selbsterneuerung unter einer Fülle "reiner Optimierungsaktivitäten" begraben wird. Diese Gefahr ist umso größer, je mehr eine Organisation auf sich selbst bezogen agiert und den Verbesserungsblick im Wesentlichen nach innen richtet.
  • Unentbehrlich für vorausschauende Selbsterneuerung ist demgegenüber die Fähigkeit der Organisation, sich mit innovativen Impulsen zu versorgen. Aus systemischer Sicht lassen sich Innovationsprozesse als eine zielgerichtete (Wieder-) Einführung von Störung in die Organisationen beschreiben (s. D. Baecker, 2007). Für Organisationen sind Innovationen herausfordernd und notwendig zugleich. Sie sind die einzige Chance zum Überleben und bergen gleichzeitig ein großes Risiko - geht es doch um das Vorbereiten auf eine "gedachte" Zukunft - eine ungewisse Zukunft, von der niemand weiß, wie genau sie aussehen wird. Mit dieser Paradoxie geht jede Organisation um - bewusst oder unbewusst; eine vorausschauende Selbsterneuerung widmet sich dieser Paradoxie aktiv. Das Motto ist "Innovate or Die" (P. Drucker) - die Herausforderung, schneller zu lernen als andere.

Wie Analysen zeigen, steht bei einem erfolgreichen Innovationsmanagement allerdings nicht die maximale Häufigkeit von Innovationen und das ständige Produzieren neuer Ideen im Vordergrund. Nachhaltig erfolgreiche Unternehmen orientierten sich an einer Handvoll Grundprinzipien, um sich auf veränderte Umweltbedingungen einzustellen. Dazu gehört u. a. die Effizienz des Innovierens (s. C. Stadler / P. Wältermann, 2012) - eine angemessene Balance zwischen erfolgreichen und kontinuierlichen Routinen in der Verwertung und Pflege des Bestehenden und der langfristig vorangetriebenen stetigen Innovationsarbeit durch Entwicklung neuer Produkte, Services oder Business-Modelle.

Innovation ist kein Kurzfrist-Geschäft - kein isoliertes Ereignis. Sie benötigt Zeit und Langfristigkeit. Sie ist vielmehr ein "Prozess, der das Neue zur Welt bringt" (S. Zillner / B. Krusche, 2012).

Letztlich bildet die Fähigkeit zur vorausschauenden Selbsterneuerung die Grundlage für das Etablieren wirksamer Innovationsprozesse in Organisationen: Die Arbeit an der eigenen Irritierbarkeit sorgt dafür, dass ein Unternehmen wachsam bleibt und rechtzeitig Antworten auf die Veränderungen der Umwelt findet. Gleichzeitig bedarf es einer großen Achtsamkeit - vor allem des Managements -, um eine für die Organisation verträgliche Balance zwischen Irritation und Aufrechterhalten erfolgreicher Routinen herzustellen. Ansonsten besteht für Organisationen die Gefahr, sich durch zu viele Störungen ihrer Routinen selbst zu blockieren.

Vor diesem Hintergrund haben wir Fragen zur vorausschauenden Selbsterneuerung bzw. zur Innovationsfähigkeit entwickelt, die dazu anregen sollen, die Verfasstheit bzw. den "Zustand" der eigenen Organisation in den Blick zu nehmen. Diese Fragen haben wir den drei Dimensionen wirksamer Change-Beratung des osb-i Change Navigators zugeordnet. Sicher ist diese Sortierung nicht immer trennscharf oder gar vollständig. Und wir haben uns auf jeweils 10 Fragen pro Dimension beschränkt, um die Übersichtlichkeit zu erhalten:

30 Fragen zur Innovationsfähigkeit

Sachdimension

Hier geht es um das "Was" - die Treiber und die inhaltlichen Gestaltungsfelder der Selbsterneuerung bzw. Innovation.

  • Gibt es eine gemeinsame Definition von Innovation? Wird explizit ausformuliert, wie Innovation verstanden werden soll und was Innovation konkret bedeutet?
  • Werden Strategie und Kernkompetenzen als Rahmen für Innovationsaktivitäten genutzt? Wie erfolgt der Abgleich? Existiert eine explizite Innovationsstrategie?
  • Was sind die vorrangigen Treiber der Innovation? Z. B. Technologieorientierung, Kundenorientierung, Netzwerke
  • Was sind die bevorzugten Innovationsbereiche? Z. B. Produkte und Services, Prozesse, Geschäftsmodelle, Marketing
  • Welches Repertoire wird vorrangig im Umgang mit Störungen angewandt? Z. B. ignorieren, einzeln abarbeiten oder systematisch vorgehen. Wie planvoll werden die eigenen Störer (Kunden / Mitarbeiter / Lieferanten / Netzwerkpartner / ...) aktiv in die Innovationsprozesse einbezogen?
  • Welche Routinen für das Wahrnehmen von Umweltveränderungen und "schwachen Signalen" sind gut etabliert? Was wird nicht beobachtet? Wo befinden sich vermutlich noch blinde Flecke?
  • An welchen Kriterien bzw. Benchmarks orientiert sich das Messen des Innovationserfolgs?
  • Wie gestaltet sich die Kombination von Marktnähe und Charakter des Alleinstellungsmerkmals der meisten Innovationen in der Organisation? Handelt es sich eher um ... (a) reines Entwickeln bzw. Generieren von Ideen und damit um eine Ideation - nicht unbedingt neu und ggf. noch weit weg vom Markt? ... oder um (b) eine "klassische" Erfindung - auch eines z. B. zunächst noch sinnfrei anmutenden Gerätes - und damit um eine Invention mit einem hohen Maß an Alleinstellung und vermutlich noch großer Marktferne? ...oder um (c) das Kopieren eines marktgängigen Produkts, das "geklont" wird, um Mitnahme-Effekte zu erzielen und Marktanteile von Markenführern zu gewinnen, und damit um eine Imitation - zwar nicht neu - dafür aber marktnah ... oder doch um (d) "echte" Innovationen, in denen sich "time to market" (gewinnbringend) und "time to profit" (Investitionskosten übertreffend) vereinen? (s. J. O. Meissner, 2011)
  • Wie ist die Zusammenarbeit mit Kunden gestaltet? Wie orientiert ist man dabei an der gemeinsamen Entwicklung innovativer Lösungen?
  • Gelangen erfolgreiche Innovationen rasch von einem Bereich in den anderen?

Sozialdimension

Hier steht das "Wie" im Vordergrund - das kreative Führen der Kommunikations- und Kooperationsdynamik in Bezug auf Selbsterneuerung / Innovation.

  • Wissen die Führungskräfte und Mitarbeiter der Organisation, wo und warum Innovation erforderlich ist?
  • Gibt es auf der Ebene des Managements eine strategische Beobachtungsebene, von der aus das "Wie" von Innovationsinitiativen in den Blick genommen wird?
  • Gibt es einen wie auch immer gearteten, organisierten Prozess mit dem Ziel, Innovationen voranzutreiben? Z. B. offene Strukturen für das Aufnehmen von Ideen; geregelte Mittel-Zuteilung - einschließlich der Aufmerksamkeit des Top-Managements; benannte / ermächtigte Projekteigner
  • Wie wird das Entstehen von Innovationen unterstützt und begleitet? Z. B. durch Innovationszirkel / -scouts
  • Wie werden Innovationsklima bzw. -kultur reflektiert?
  • Wer ist für das Thema "Innovation" verantwortlich? Gibt es z. B. Organisationsadressen und Ressourcen für Innovation, die Erneuerungsbelange verfolgen und Entscheidungen herbeiführen können?
  • Wird die maximal mögliche Mitarbeiter-Basis ins Innovationsmanagement eingebunden? Hat sie Zugang zu den notwendigen Dokumenten und Daten? Gibt es Formate, in denen sich eine Mehrheit formieren und Innovationsthemen gemeinsam bearbeiten kann? Z. B. Open Space; Kooperation in innerbetrieblichen und betriebsübergreifenden Innovations­systemen und Clustern
  • Gibt es physische und virtuelle Orte, an denen Innovieren nicht nur ausdrücklich erwünscht, sondern Leitmotiv ist? Z. B. begehbarer Innovationsraum oder Orte, in denen Mitarbeiter die Möglichkeit haben, ihre alltäglichen Arbeitsinstrumente / -techniken zugunsten der Innovation beiseite zu legen. Was geschieht mit den sogenannten Bett- / Bad- / Bus-Ideen der Mitarbeiter?
  • Wie wird mit Out-of-the box-Thinking umgegangen - wird es eher wertgeschätzt oder unterdrückt? Gibt es Gelegenheiten, Erfahrungen des Scheiterns zu analysieren? Wie gut gelingt es, "Fehler" unabhängig von Personen als Impuls zu betrachten?
  • Wird das Weitergeben von Wissen belohnt? Sind die Wissensträger in der Organisation bekannt? Wissen alle, wer das Know-how besitzt, um zu reagieren, wenn etwas Ungewöhnliches passiert?

Zeitdimension

Hier steht das "Wann" im Mittelpunkt - die Choreografie des schrittweisen Handelns bzgl. Selbsterneuerung / Innovation.

  1. Existiert ein regelmäßig verlaufender, systematischer, strukturierter und professionell gestalteter Prozess rund um das "Innovieren"?
  2. Gibt es Slack-Ressourcen zur "kreativen Entschleunigung"? Gibt es "Auszeiten" bzw. "Räume", in denen aus der Kombination von Kontextverschiebung und innerer und äußerer Entspanntheit Kreativität und Zufälle gefördert werden - etwa in sogenannten 3-B-Kontexten (Bett / Bad / Bus)?
  3. Gibt es periodische Auszeiten, in denen Innovationen explizit thematisiert werden?
  4. Wie wird sichergestellt, dass Ideengeber "mit Herzblut" im weiteren Prozess aktiv einbezogen werden?
  5. Gibt es genug Zeit und (formale) Gelegenheit zum (gemeinsamen) Reflektieren und Nachdenken?
  6. Wie intensiv werden Lessons Learned ausgewertet und für weitere Prozesse genutzt bzw. zugänglich gemacht?
  7. Wie und wie oft wird die Zukunft in der Gegenwart betrachtet - z. B. mit Hilfe von Foresight-Methoden? (s. D. Wilhelmer / Reinhart Nagel, 2014)
  8. Wann gab es die letzte wirklich erfolgreiche Innovation in der Organisation?
  9. Welche Innovationen werden in der Organisation erinnert und warum? Wie weit liegen sie zurück?
  10.  Welche Erfahrungen hat die Organisation in der Vergangenheit mit Innovationen gemacht? Welche Geschichten sind daraus entstanden und wie werden sie weitergegeben?

Literatur / Quelle:

Baecker, D.: "Studien zur nächsten Gesellschaft", Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2007

Meissner, Jens O.: "Einführung in das systemische Innovationsmanagement", Carl-Auer Verlag GmbH, Heidelberg, 2011

Schumacher, T.: "Vorausschauende Selbsterneuerung und Führung"; in: Schumacher, T. (Hrsg.): Professionalisierung als Passion. Aktualität und Zukunftsperspektiven der systemischen Organisationsberatung. (S. 166-179), Carl-Auer Verlag GmbH, Heidelberg, 2013

Stadler, C., Wältermann, P.: "Die Jahrhundert-Champions: Fünf Prinzipien für dauerhaften Unternehmenserfolg oder Was wir aus der Geschichte europäischer Top-Unternehmen lernen können", Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft Steuern Recht GmbH, Stuttgart, 2012

Wilhelmer, D.; Nagel, R.: Foresight-Managementhandbuch. Das Gestalten von Open Innovation, Carl-Auer Verlag GmbH, Heidelberg, 2013

Zillner, S., Krusche, B.: "Systemisches Innovationsmanagement: Systemisches Innovationsmanagement: Grundlagen - Strategien - Instrumente", Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft Steuern Recht GmbH, Stuttgart, 2012

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