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16. Juli 24

Aufbruch in die digitale Zukunft des Universitätsspitals Zürich

von Rolf Curschellas (Direktor HRM bei Universitätsspital Zürich) und Thomas Schumacher (osb international)

Gesundheitssysteme und in ihrem Bereich tätige Organisationen stehen vor großen Herausforderungen: Die älter werdende Bevölkerung erhöht die Nachfrage nach Gesundheitsversorgung, gleichzeitig stehen zu wenig Ärzt*innen und Pflegekräfte zu Verfügung. Der medizinische und technische Fortschritt, aber auch der Anstieg chronischer Erkrankungen konfrontiert Akteur*innen in der Gesundheitsversorgung mit einer stetig wachsenden Komplexität und steigenden Kosten.

Die Sicherstellung qualitativ hochwertiger Patient*innenversorgung, zunehmender Kostendruck und der Wunsch nach deutlich erhöhter Effizienz stellen Krankenhäuser vor ein vielschichtiges Problem.

Vor diesem Hintergrund hat das Universitätsspital Zürich (USZ) seine letzte Kaderveranstaltung dem Thema der Digitalisierung sowie als entscheidendem Teil davon dem zukünftigen Klinikinformationssystem (KIS) gewidmet. Das USZ sieht in der Digitalisierung den entscheidenden Lösungsansatz, um die Effizienz zu erhöhen, den administrativen Aufwand zu reduzieren und damit die Ärzt*innenschaft und die Pflege verstärkt für wertschöpfende Arbeiten freizuspielen.

Diese Kaderveranstaltung stellte ein wichtiges Element zur Umsetzung der strategischen Prioritäten des Jahres 2024 dar: Der "Ausrichtung auf Patientinnen und Patienten", dem "digitalisierten Spital" und der "Finanzierung aus eigener Kraft" – mit dem übergeordneten Anspruch auch 2030 zu den zehn besten Spitälern weltweit zu gehören. Ca. 140 Top-Führungskräfte diskutierten und bearbeiteten gemeinsam die damit verbundenen Fragestellungen und Herausforderungen.

Die anwesenden Führungskräfte mit ihren ärztlichen, pflegerischen, betriebswirtschaftlichen und technischen Professionshintergründen repräsentierten dabei sehr gut den interprofessionellen Charakter der Expert*innenorganisation USZ – vereint durch die gemeinsame Verpflichtung gegenüber der Organisation und den Patient*innen sowie die Verbundenheit und Identifikation mit der eigenen Profession.

Diese Ausgangslage für die anstehende Transformation konnte anschaulich mit einem „Evergreen“ des Change-Managements, der Change-Formel, beschrieben werden:

Change-Formel – eine Sicht auf Veränderung

Die Change-Formel stellt ein Modell dar, das den komplexen Prozess organisationaler Veränderung auf ein paar wenige Aspekte überschaubar reduziert. Als "Schweizer Taschenmesser" des Change-Managements bietet sie zudem eine handlungsleitende Orientierung für eine effektive Entwicklung und Bereitschaft zum Wandel.

Die Change-Formel im Detail:

Die Change-Formel besagt, dass die Bereitschaft zur Veränderung unter bestimmten Bedingungen entsteht. Dazu muss die Notwendigkeit der Veränderung klar, das Zukunftsbild attraktiv, die ersten Veränderungsschritte praktikabel und plausibel und die Kapazitäten für den Wandel vorhanden sein. Wenn das Produkt dieser Faktoren größer als die wahrgenommenen Kosten der Veränderung aus Sicht der Akteur*innen ist, dann entsteht Veränderungsenergie. Im Kern beschreibt die Formel also, dass der Widerstand gegen Veränderung kleiner sein muss als die treibenden Faktoren der Veränderung.

Die Logik der Change-Formel und ihre einzelnen Elemente dienten im Rahmen der Veranstaltung als Orientierung für die Diskussion unter den Führungskräften.

1. Notwendigkeit des Wandels – Widerspiegeln der aktuellen Praktiken der Zusammenarbeit (auch mit den Patient*innen)

Ein gemeinsames Verständnis der Notwendigkeit des Wandels ist eine Voraussetzung für gelingende Veränderungsprozesse. Diese Einsicht ist so alt wie das Change-Management selbst (vgl. John P. Kotters "Sense of Urgency"). Gleichzeitig ist es in komplexen Organisationen mit hoher Autonomie der Teilbereiche herausfordernd, eine gemeinsame Sichtweise auf die aktuelle Zusammenarbeit und Organisation sowie eine entsprechende Bewertung für den Handlungsbedarf und die Ansatzpunkte zu entwickeln.

Im Rahmen der Veranstaltung wurden deshalb einige Episoden aus dem organisatorischen Alltag des Spitals, die vorab in kurzen Interviews erhoben wurden, von einem Schauspieler*innenpaar in Szene gesetzt. Die durchaus humoristische, aber treffende Spiegelung der aktuellen Praxis – zum Beispiel die Schwierigkeiten von Patient*innen einen mit mehreren Ansprechpartner*innen abgestimmten Termin zu erhalten – löste (nicht zum ersten Mal) Nachdenklichkeit aus. Die kleinen Szenen zeigten anschaulich die Grenzen der aktuellen Kooperationsmöglichkeiten und die daraus resultierenden Konsequenzen für Patient*innen:

Mitarbeiterin der Patient*innendisposition: "Herr Bommer (Patient), rufen Sie doch mal beim Empfang von der Pneumologie an. Die können die Untersuchung vielleicht auf Donnerstag schieben… damit Sie alles an einem Tag haben…"

Patient: "Ah, sind Sie nicht vom Universitätsspital?"

Mitarbeiterin: "Doch, aber das ist eine andere Abteilung."

In der anschließenden Diskussion im Kreis der Führungskräfte zeigte sich eine hohe Bereitschaft, die Alltagspraxis gerade aus Sicht der Patient*innen zu reflektieren, die eigene Praxis selbstkritisch zu hinterfragen und durchgängige Patient*innenprozesse zu gestalten.

2. Attraktives Zukunftsbild – Filmische Grüße aus der Zukunft

Um die nötige Veränderungsenergie zu entwickeln, braucht es aber neben der "Von-weg"- auch eine "Hin-zu"-Energie. Durch diese kann ein attraktives Zukunftsbild entwickelt werden. Im Rahmen der Veranstaltung wurde deshalb gemeinsam ein Blick in die Zukunft geworfen. Mithilfe eines Videos wurde die zukünftige Arbeitsweise veranschaulicht. Handlungsleitend war dabei eine durchgängige Patient Journey, d.h. der Weg einer Patient*in durch alle Stationen eines Spitalaufenthalts. Der Abgleich mit der aktuellen Praxis zeigte schnell auf, wie Arbeitsabläufe und Prozesse in Zukunft gestaltet werden müssen, damit diese für Patient*innen, Zuweisende und Mitarbeitende gleichermaßen attraktiv sind.

3. Praktikable nächste Schritte

Bereits vor der Kadertagung war eine Gruppe von ca. zwei Dutzend Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus verschiedenen Bereichen des Spitals für eine dreiwöchigen Arbeitssession freigestellt worden, um die zukünftigen Arbeitsweisen inhaltlich zu beschreiben ("was") und konkret zu erörtern, wie die Veränderung erfolgen kann ("wie"). Ihre Aufgabe war es, Anforderungen und Kriterien für die Submission eines zukünftigen Krankenhausinformationssystems (KIS) zu definieren, welches die Basis für die angestrebte Arbeitsweise am USZ bildet. Die Gruppe nahm via Live-Schaltung an der Veranstaltung teil und präsentierte den Führungskräften die als Voraussetzung für die Digitalisierung entworfenen Abläufe (User Stories).

Beeindruckend war, wie selbstverständlich die Kolleginnen und Kollegen aus der Arbeitsgruppe ihre interprofessionell erarbeiteten, zukünftigen Arbeitsabläufe präsentierten und aus ihrem Arbeitsprozess berichteten. Neben den Inhalten überzeugte die Präsentation vor allem durch das, was man "präfigurativen Wandel" bezeichnet – das Vorwegnehmen der zukünftigen Form der Zusammenarbeit: Völlig selbstverständlich und selbstorganisiert schilderten die Mitarbeitenden den ca. 140 zugeschalteten Führungskräften, wie die Praxis der zukünftigen Zusammenarbeit (z.B. in Bezug auf Datenverfügbarkeit, das Management von Kapazitäten wie etwa Betten oder den Medikamentenprozess) aus praktischer Sicht aussehen sollte und lebten diese Zusammenarbeit bereits anschaulich vor!

Eine Führungskraft formulierte ihren Eindruck so: "Die Vorstellung der KIS-Arbeitsgruppe hat Vertrauen in das Vorhaben geschaffen und die positive Stimmung ist rübergeschwappt."

4. Ressourcen

Ganz nebenbei wurde damit auch das Thema Kapazitäten angesprochen: Allen wurde klar, dass beispielsweise durch die zentrale Verfügbarkeit von Patient*innendaten die Zusammenarbeit und der Informationsaustausch vereinfacht und damit Doppelarbeiten zukünftig vermieden werden. Die so eingesparte Zeit für Administration und schwerfällige Abstimmungen kann in Zukunft für wertschöpfende, den Patient*innen dienende Arbeiten eingesetzt werden. Das macht das Spital auch attraktiver für zukünftige Mitarbeitende. Gut und vorausschauend strukturierte Patient*innendaten sind selbstredend auch ein riesiges Potential für die Forschung und Entwicklung neuer Behandlungsmethoden.

5. Wahrgenommene Kosten – wenn Veränderung auf bestehende Muster trifft

Doch auch wenn der Aufbau der Change-Formel nachvollziehbar und die Digitalisierung der Prozesse und Abläufe sinnvoll erscheinen und zu einer signifikanten Effizienzsteigerung und Arbeitsentlastung führen, gelingt die Umsetzung eines solchen Projektes nicht ohne Anstrengungen. Eine derartige Initiative durchdringt sämtliche Ebenen und Bereiche einer Organisation und trifft natürlich auf bestehende Kooperationsmuster und Selbstverständlichkeiten. Ganz zu schweigen, dass davon auch historisch gewachsene Strukturen tangiert werden und in die Autonomie der Organisationseinheiten eingegriffen wird.

Im konkreten Fall spielt – nicht untypisch für große Expert*innenorganisationen – insbesondere die Polarität zwischen der Perspektive der dezentralen Kliniken und der Perspektive des Gesamtspitals eine wichtige Rolle.

So wird beispielsweise die Auswahl einer KIS-Software aufmerksam dahingehend beobachtet, welche Auswirkungen und Vorteile das jeweilige System für die Kliniken bzw. das Gesamtspital mit sich bringt. Schnell gerät dabei ein solches Projekt zum Spielball einer polarisierenden "Entweder-oder"-Logik, obwohl ein leistungsfähiges Universitätsspital selbstverständlich sowohl leistungsfähige Kliniken als auch Spital-übergreifende Prozesse (zum Beispiel Patient*innenprozesse oder Kapazitätsmanagement-Prozesse) braucht.

Eine Transformation wie diese bietet damit aber auch die einmalige Chance zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, nämlich Prozesse und Arbeitsweisen zu verändern und gleichzeitig die Kultur und Zusammenarbeit in der Organisation weiterzuentwickeln. Gelingt es hier von einem "Entweder-oder"- in ein "Sowohl-als-auch"-Verständnis der zugrundeliegenden Polaritäten zu wechseln, kann über den kleinsten gemeinsamen Nenner hinaus auch für andere Polaritäten wie Wirtschaftlichkeit und medizinische Qualität oder Professionalität und Interprofessionalität ein gewaltiger Schritt erfolgen. In diesem Sinne ist die gezielte Nutzung eines Transformationsprojekts zur Weiterentwicklung der bestehenden Muster der Zusammenarbeit vielleicht die eigentliche (manchmal aber ausgeblendete) Transformationschance. Die parallele Schwerpunktsetzung ist gerade für Expert*innenorganisationen häufig ein ungewohnter Schritt. Im Rahmen der Veranstaltung wurde folgendes Experiment gewagt:

Anleitungen zum Scheitern – ein paradoxer Blick auf die eigenen Muster

Zum Abschluss der Veranstaltung nahmen die Führungskräfte sich selbst und ihren Umgang noch einmal in den Blick. Frei nach dem Motto "Wie können wir die Transformation an die Wand fahren?" und eingestimmt durch Peter Kruses Klassiker "8 Regeln für den totalen Stillstand", entwickelten die Führungskräfte ihre eigenen nicht ganz ernst gemeinten Regeln, um die anstehende Transformation sicher zum Scheitern zu bringen.

Die dazu in Gruppen entwickelten Regeln wie "Wir halten an alten Prozessen fest und arbeiten auch im neuem KIS weiterhin mit Papier" oder "Wir unterstützen die Strategie nicht und verbreiten bei jeder Gelegenheit anderslautende Messages" machten die Bedeutung von Führung, Kommunikation und Prozessen deutlich. Um den Stillstand auch wirklich sicherzustellen, empfahl eine Gruppe: "Unsere hochgelobte Jammerkultur veredeln wir mit: Reden ist Silber aber Schweigen – über alles, was relevant ist – ist Gold!"

Diese Arbeitsrunde hatte einen öffnenden und gewissermaßen kathartischen Charakter. Es war möglich, auf eine neue Art über die entscheidende Rolle der Führung und eine verbesserte Unterstützung des Wandels zu sprechen. Auch wenn einige der Themen scherzhaft besprochen wurden, konnte so anders auf die eigene Praxis geschaut und diese reflektiert werden.

Wie weiter? Keine Zweck-Mittel-Verdrehung

Das Gesundheitssystem steht bereits seit geraumer Zeit im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die vielfältigen Selbstverständnisse der verschiedenen Berufsgruppen sind dabei ebenso Thema wie notwendige umfangreiche Veränderungen oder die immer knapper werdenden finanziellen und personellen Ressourcen. Damit die notwendige Transformation des Gesundheitssystems und seiner Institutionen – insbesondere der Krankenhäuser – gelingt, kann die Digitalisierung einen wesentlichen, womöglich existenziellen Beitrag, leisten.

Der Erfolg der Organisationsentwicklung der Spitäler wird davon abhängen, dass ihre Führung der Digitalisierung die notwendige Aufmerksamkeit widmet und sie nicht als bloßes IT-Projekt versteht. Oder wie eine Führungskraft es ausdrückte: "Aus meiner Sicht sollte der Fokus auf Patient*innen und Mitarbeitende gelegt werden. Digitalisierung ist wichtig aber eben nur Mittel zum Zweck, damit der Patient*innenprozess reibungsarm verläuft und die Mitarbeitenden sich auf ihre Kernkompetenzen fokussieren können."

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