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18. Juli 23

Change zwischen den Stühlen

Führungsdialoge zur Nachhaltigkeitstransformation

Wandelarbeit hat es in diesen Zeiten nicht leicht. Politik, Zivilgesellschaft und Medien beobachten genauer denn je, wie Organisationen Werte schaffen. Sie lassen sich nicht mehr durch Maximen wie "Hauptsache Wachstum" und "Differenzierung über den Preis von Produkten" ködern oder vertrösten. Change muss auf diese mitunter widersprüchlichen Erwartungen aus dem Umfeld von Organisationen passende Antworten liefern. Waren es am Anfang noch ausgewählte Non-Profit-Akteur*innen, die sich aktiv gegen einen Raubbau an der Umwelt einsetzten, ist Nachhaltigkeit mittlerweile auch im unternehmerischen Mainstream angekommen. Heute übernehmen Unternehmen Verantwortung, die weit über Profit hinausgeht. Sie umfasst das gesellschaftliche Miteinander ebenso wie Umwelt oder Moral und Ethik. Dabei steht das Wohl von Menschen gleichwertig neben Unternehmenszielen. Dass dieses Nebeneinander nicht immer widerspruchsfrei funktioniert, wird immer wieder deutlich.

Während eine noch nicht klar definierte Zukunft schon um die Ecke schaut, dominieren Routinen, Traditionen und mitunter tief in der Kultur verankerte Werte und Normen das tägliche Geschäft. Genau diese haben Organisationen über viele Jahre erfolgreich gemacht, sind immer noch relevant und – so eine leitende Führungskraft in einem kürzlich begleiteten Strategieworkshop – "zahlen immer noch unsere Gehälter". Und so stehen einander in Organisationen zwei Welten, scheinbar unversöhnlich, gegenüber: Management ist daher heute mehr denn je Paradoxie-Management.

Ein Beispiel gefällig? Wenn man Kund*innengespräche mit Kund*innen nun vor allem virtuell führt, um damit Langstreckenflüge zu vermeiden, riskiert man damit gleichzeitig Kund*innennähe und Einblicke zu verlieren, die gerade im Wettbewerb entscheidend sein können?

Organisationale Paradoxien, u.a. definiert als interdependente, widersprüchliche und andauernde Elemente (Smith, Lewis, 2011) sind im Kern Gegensätze. Sie zeigen sich als spannungsgeladene Zweierbeziehungen wie Effizienz und Innovation, Kontrolle und Flexibilität oder eben Stabilität und Wandel. Paradoxien treten meist da auf, wo Organisationsmitglieder versuchen, konkurrierenden Anforderungen gerecht zu werden (Schumacher, 2023). Führung kommt in diesem Zusammenspiel der Kräfte eine entscheidende Rolle und Aufgabe zu. Widersprüche innerhalb der Organisation, aber auch Spannungen, die Binnen- und Außenperspektive auf Organisationen entstehen lassen, müssen nicht nur erkannt, sondern auch reflektiert, besprochen und bearbeitet werden.

Dafür müssen wir den Blick auf Führung erheblich erweitern. Um die Komplexität der Herausforderungen zu erfassen, ist es notwendig aus 4 Perspektiven darauf zu schauen:

1. Mich sehen

Hier geht es um ein Sich-Bewusstmachen der eigenen Rolle(n), die jemand als Organisationsmitglied aktiv wahrnehmen möchte, die ihm zugewiesen werden oder die jemand bewusst ablehnt. Es geht um Fähigkeiten, Kompetenzen und das Aufzeigen von Entwicklungspotenzialen. Führungskräfte haben insbesondere in Veränderungsprozessen eine Vorbildrolle: Sie strahlen mit ihrer Haltung und ihrem Verhalten in die Organisation. Dies braucht eine reflektierte, sortierte und abgestimmte Vorleistung aller beteiligten Führungskräfte (Kotter, 1996).

Fragen für diese Perspektive sind unter anderem:

  • Welche Rollen will jemand als Organisationsmitglied bewusst wahrnehmen und welche Erwartungen werden dann an sie/ihn gerichtet?
  • Welchen Glaubenssätzen folgt sie/er und wie zeigt sich das?
  • Ist man bereit loszulassen oder auch zu verlieren, damit der Wandel gelingen kann?

2. Uns sehen

"Uns sehen" meint Strukturen, Prozesse, Arbeitsweisen, aber auch tradierte und lieb gewonnene Mechanismen und Dynamiken in der Organisation sowie ihre Geschichte und Kultur genau zu betrachten. Es bedeutet auf die "Hinterbühne der Organisation" zu schauen und ihre ungeschriebenen Regeln, Handlungsprinzipien und Glaubenssätze zu beleuchten. Und es erfordert neben der Frage, was wollen/müssen wir verändern auch die Frage zu stellen, was wollen wir beibehalten. Denn die aktuelle Verfassung ist ja oft das Fundament des (bestehenden) Erfolges. Dabei müssen insbesondere Führungskräfte in der Lage sein, einerseits durch Verbesserung und Effizienzsteigerung erfolgreich im Bestehenden zu sein (Exploitation) und zum anderen aber auch durch Experimentieren und flexibles Handeln Neues zu erschließen (Exploration). Fragen für diese Perspektive sind z.B.:

  • Was muss bleiben oder beendet werden, damit wir auch weiterhin erfolgreich sind?
  • Wie haben wir bisher auf Veränderungsanlässe reagiert? Und mit welchem Erfolg?
  • Welche internen Faktoren erschweren die heutige Situation und welche begünstigen sie?

3. Sehen, wie die anderen uns sehen

Wie sehen uns Kund*innen, Märkte und Wettbewerber*innen, aber auch sonstige gesellschaftliche Akteur*innen? Wie sehen uns Andere? Wie verbessern wir unsere Anschlussfähigkeit an Anspruchsgruppen und -akteur*innen wie Politik und Zivilgesellschaft? Wie nehmen wir deren Perspektive ernst und holen sie bewusst ein? "Sehen, wie die anderen uns sehen" meint auch Trends und schwache Signale frühzeitig zu erspüren und daraus Innovationspotenziale für die Organisation abzuleiten. Die sogenannte Umweltsensibilität zur Erfassung von Anpassungsbedarfen und als Mittel gegen die sogenannte Betriebsblindheit ist eine existentielle organisationale Kompetenz. Für Führung ist es heute wichtiger denn je "über den Zaun" zu blicken und den Blick von außen nach innen zu wenden, um nicht in der eigenen Binnenperspektive zu verharren. Diese Fragen können helfen, diese Perspektive aktiv wahrzunehmen:

  • Welchen Nutzen erwarten unsere Kund*innen von unseren Leistungen und Produkten schon heute und in der Zukunft?
  • Welche Erwartungen hat unser gesellschaftliches Umfeld an uns? Haben wir den Mut diese Erwartungen ernst zu nehmen?
  • Wie schauen Kund*innen, Wettbewerber*innen, aber auch Kooperationspartner*innen auf uns (Haltungen, Forderungen, Erwartungen)?

4. (In) die Welt sehen

Wie blicken wir als Führungssystem auf unser (Makro- und Mikro-) Umfeld, um aus ihm zu lernen. Dieser Punkt ist komplex, denn ein ernst gemeintes Veränderungslernen nimmt Rahmenbedingungen, Werte und Paradigmen, Prinzipien und ungeschriebene Regeln in den Blick. Erst wenn die Aufmerksamkeit auf wirkliches Umfeld-Verstehen und -Durchdringen verlagert wird, besteht eine Chance auch die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten besser wahrzunehmen. Die Kernfrage lautet: Wie gelingt es uns, erfolgreich zu wirtschaften UND dabei mehr Gutes als Schlechtes in der Welt zu hinterlassen? (Polman/Winston, 2021).

Diese Fragen können unterstützen, diese Perspektive einzunehmen:

  • Warum gibt es uns als Organisation?
  • Was versprechen wir wem?
  • Wer leidet unter uns?

Damit dient Führungsleistung zum einen den jeweiligen Organisationszielen und stellt sich in den Dienst der entsprechenden Zweckprogramme. Zum anderen sorgt sie auch für einen Abgleich bzw. erzeugt eine Spannung dieser Zielsetzungen mit der bewusst eingebrachten Außenperspektive einer zukünftig lebenswerten Welt. Beides steht in der Regel nicht im Einklang miteinander und muss daher in seiner Widersprüchlichkeit angenommen und miteinander in Beziehung gesetzt werden (Wimmer/Schumacher, 2009).

Die Verantwortung von Führung wird damit größer und voraussetzungsvoller. Sie löst sich von einer individualisierten und funktionalen Ausrichtung (durch die Führungskraft und die Bereichsleitung) auf ausschließlich nach Eigeninteressen geleitete Ziele (die Organisation) und entwickelt sich hin zu einer kollektiven Fähigkeit von Organisationen, angemessen auf Komplexität und damit verbundene Ambivalenzen in der Wertschöpfung zu reagieren.

Führung als eine "Organizational Capability" zu begreifen impliziert somit einen ganz entscheidenden Perspektivenwechsel. Damit wird die heroische Tradition, welche Führung primär als eine Eigenschaft von Personen gesehen hat, die den Rest der Organisation als Instrument zur Realisierung ihrer Ziele sehen, verlassen (Wimmer, 2017).

So stehen viele Führungsteams vor der Aufgabe im Rahmen eines Dialogs bzw. Diskurses eine komplexe Entscheidung zu treffen, die bei genauerer Betrachtung oft keine Entweder-Oder-Entscheidung ist.

Um die Widersprüchlichkeit des Organisationsalltags und die damit einhergehende Unsicherheit betreffend des "Richtig und Falsch“ unternehmerischer Entscheidungen auszuräumen, wird in Unternehmen und Organisationen häufig versucht, Such- und Gestaltungsprozesse, welche diese Ungewissheit absorbieren, zu delegieren (Wimmer/Schumacher, 2009).

Dieser sogenannte Führungsdialog kann als Dialog der Führung mit der Organisation beschrieben werden. Er erlaubt Manager*innen auf unterschiedlichen Ebenen des Dialogs, im Kollektiv mit ihren Kolleg*innen an der Führung des Unternehmens mitzuwirken (Hawkins 2014, Dierke & Houben 2013).

Kollektive Führung heißt dabei nicht, dass jede Führungskraft bei Allem mitredet. Doch sie erfordert an bestimmten neuralgischen Punkten den Austausch und die Abstimmung zwischen den obersten Führungsebenen (vertikal) und zwischen den großen Organisationseinheiten (horizontal) (Hilse 2016).
Dabei ist diese Form der kollektiven Führung anders als klassische Feedbackformate, da sie eine lösungsorientierte Sichtweise auf Bedarfe etabliert.

Das gemeinsame Ringen um die beste Lösung erleben Organisationen häufig als eine neue Form von Veränderungsfähigkeit, Offenheit und Glaubwürdigkeit in der Führung. Wenn ein Führungsteam sich auf ein solches Format einlässt, erreicht es häufig schon bei den ersten Dialogen eine neue Form des Miteinanders, denn auch hinter den Argumenten liegende individuelle Grundannahmen, Weltsichten und Motivlagen werden transparent und führen zu einem verbesserten Verständnis untereinander, einer größeren Offenheit und neuem wechselseitigem Vertrauen. Zugleich bildet sich eine veränderte Form des kollektiven Denkens und des Co-Kreierens heraus. Statt "Wer hat die beste Idee?" oder "Wer setzt sich durch?", heißt das Spiel nun "Wie kommen wir zur besten Lösung?" und "Wer kann was beitragen?" (Hilse 2016).

Führung, verstanden als eine kollektive Systemleistung in Organisationen, kommt in diesen Zeiten eine besondere Verantwortung zu. Sie muss sich in den Dienst einer Welt stellen, die widersprüchlich, unplanbar, komplex, schnelllebig und für alle Beteiligten herausfordernd ist. Das gilt für all diejenigen, die sich als Mitgestalter*innen in Organisationen begreifen und ihren Beitrag für eine lebenswerte Zukunft in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen. Dieses Sich-in-den-Dienst-stellen ist eine bewusste Entscheidung, die jede und jeder für sich trifft. Verantwortung kann nicht angeordnet werden, man nimmt sie sich.

Literatur

Liz Mohn Center (2023): Die 4 Perspektiven auf Führung – Eine Einladung zum Handeln. Gütersloh

Roehl, Heiko; Haas, Oliver; Belau, Malte (2017): Der Change-Navigator, 48 Frage- und Aktionskarten für wirksames Change Management. BELTZ. Weinheim

Haas, Oliver; North, Klaus; Pakleppa, Claus-Bernhard (2022): Transformation, Tiefgreifende Veränderungen verstehen, ermöglichen und gestalten. Vahlen. München

Schumacher, Thomas (2023): Paradoxien erkennen und managen. In: OE 1/2023, S. 1

Polman, Paul; Winston, Andrew (2021): Net Positive. How courageous companies thrive by giving more than they take. Harvard Business Review Press. Boston

Smith, W. K., & Lewis, M. W. (2011): Toward a theory of paradox: A dynamic equilibrium model of organizing. The Academy of Management Review, 36(2), S. 381–403

Rudolf Wimmer, Jens O. Meissner, Patricia Wolf (Hrsg.) (2009): Praktische Organisationswissenschaft, Lehrbuch für Studium und Beruf. Carl-Auer, S. 169 ff.

Kotter, John P. (1996): Leading Change. Vahlen

Wimmer, Rudolf (2017): Führung und Change Management als Grundlage einer dauerhaften Wettbewerbsfähigkeit. In: Roehl/Asselmeyer: Organisationen klug gestalten.

Hilse, Heiko (2016): Führungsdialogplattformen im Top Management. Wie sich Organisationen bewegen, wenn man ganz oben damit beginnt. In: OE 1/2016

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