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14. Mai 24

Das radikale Ökosystem-Modell von Haier – die Organisation der Zukunft?

Wie sieht die Organisation der Zukunft aus? – Diese Frage wird je nach Epoche sehr unterschiedlich beantwortet.

Im 19. Jahrhundert galt die bürokratische Organisation der öffentlichen Verwaltung mit ihrer klaren Hierarchie (Fayol’s Ein-Linien-System à la "one man one boss"), spezialisierten Expert*innenteams und formalisierten Regeln als das Vorbild für eine effiziente Organisation.

Heute beschreiben dagegen eine ganze Reihe prominenter Akteur*innen den Ansatz des chinesischen Haushaltswarenherstellers Haier als Organisationsmodell der Zukunft. So verortet z.B. der Managementforscher Gary Hamel den Kern des Erfolgs von Haier gerade darin, dass sich Haier von einer sehr bürokratischen und hierarchischen Organisation in ein hochdynamisches Ökosystem kund*innenzentrierter, unternehmerischer Einheiten transformieren konnte.  

Die berichteten Zahlen und Ergebnisse sind in der Tat beeindruckend – selbst wenn man berücksichtigt, dass Haier sehr vom Bauboom im chinesischen Heimatmarkt profitieren konnte: Haier, gegründet 1984 in China, hat sich von einem defizitären Hersteller von Kühlschränken zweifelhafter Qualität zum heute weltweit größten Anbieter von Haushaltsgeräten entwickelt – mit einer erstaunlichen Wachstumsdynamik und Innovationskraft, vor allem auch im Bereich neuer, internetbasierter Produkte und Dienstleistungen. Als wesentlicher Erfolgsfaktor gilt dabei das einzigartige Organisationsmodell, das Haier über die Jahre entwickelt und mehrfach angepasst hat, und nun auch in anderen Ländern einsetzt (z.B. nach der Übernahme der Haushaltssparte von General Electric). 

Wie funktioniert Haier? Auch wenn das Modell zahlreiche Facetten hat, ist das zentrale Element ein plattform-basiertes Ökosystem, das Haier nicht nur nutzt, um Innovation und Wertschöpfung über IT-Plattformen für externe Partner*innen und Kund*innen zu öffnen, sondern auch als Grundprinzip auf die eigene Organisation anwendet.  

So hat Haier die klassische Idee (die sich bereits in der Geschäftsfeldorganisation findet), Unternehmer*innentum und Kund*innenzentrierung durch die Schaffung von relativ autonomen, unternehmerischen Einheiten zu fördern, radikalisiert – und das Unternehmen in über 4.000 eigenständige Unternehmen, sogenannte "micro enterprises" (kurz: MEs) reorganisiert. Diese MEs verfolgen alle das Ziel einer radikalen Kund*innenorientierung ("zero distance to the customer"). Haier spricht hier von "RenDanHeyi", also einer Organisation, die – ausgehend vom taoistischen Prinzip der Einheit von Mensch und Natur – zwischen den Mitarbeitenden (repräsentiert durch Ren) und den Nutzer*innen (Dan) eine enge, synergetische Beziehung (HeYi) herstellt.  

Die MEs übernehmen dabei unterschiedliche Rollen im Gesamtgefüge. Beispielsweise sind "incubating MEs" für den Aufbau ganz neuer Geschäfte (wie z.B. E-Gaming-Plattformen) verantwortlich, während "transforming MEs" neue, internet-basierte "smart home" Lösungen für die Transformation im Bereich Haushaltsgeräte entwickeln – und "nod MEs" interne Service-/Produktanbieter (z.B. für Produktdesign, industrielle Fertigung oder Personalmanagement) für die anderen MEs sind.  

Alle MEs agieren als eigenständige Unternehmen, die sich ähnlich wie Start-ups flexibel immer wieder neu um entstehende oder noch nicht adressierte Kund*innenbedürfnisse herum formieren und sich dann im Markt beweisen müssen. Dazu gehört: MEs erhalten in der Regel erst dann substanzielle finanzielle Unterstützung von Haier, wenn sie eine externe Finanzierung erreichen konnten. Ziele und Entlohnung der Führungskräfte und Mitarbeitenden sind radikal an Markterfolge gekoppelt – was auch bedeutet, dass MEs nicht fortbestehen können, wenn sie im Markt nicht erfolgreich sind. Dies gilt auch für die internen Serviceanbieter ("nod MEs"). Denn die MEs operieren untereinander wie unabhängige Marktanbieter, ohne internen Kontrahierungszwang.  

Zugleich fördert Haier eine gemeinsame Ausrichtung, indem sich die MEs rund um "Plattformen" und Ökosysteme organisieren (siehe auch die Abbildung unten). Diese Plattformen betreffen entweder die gleiche Produktkategorie (z.B. Wäschereinigung) oder dienen dem Aufbau bestimmter Fähigkeiten (z.B. digitales Marketing oder "mass customization"). Die Aufgabe der Plattformverantwortlichen ("platform owners") besteht darin, Möglichkeiten der Kollaboration zwischen den MEs zu identifizieren und zu unterstützen (allerdings über das Setzen von Standards, Identifikation interner Partner*innen usw. – ohne disziplinarische Weisungsbefugnis). Zudem ist eine der wenigen Vorgaben an die MEs, unter Nutzung dieser Plattformen selbst fokussierte Ökosysteme mit internen und externen Partner*innen (genannt "Ecosystem Micro Communities" (EMC)) aufzubauen, um so integrierte Nutzenversprechen realisieren zu können.  

 

Unser Zwischenfazit: Haier liefert durchaus innovative Antworten auf die altbekannte Frage, wie eine große Organisation die unternehmerische Energie ihrer Mitarbeitenden freisetzen und zugleich eine gemeinsame Ausrichtung erzielen kann – ohne dabei letztlich doch wieder auf das bekannte Modell einer hierarchischen Steuerung zurückzufallen.  

Aus systemischer Perspektive kann man gut erkennen, wie das Gesamtsystem im Lauf der Unternehmensentwicklung immer wieder mit Impulsen in den organisationalen Gestaltungsfeldern – Strategie, Organisation, Personen und Kultur – weiterentwickelt wurde. Ein Prozess, der auch mit dem aktuellen Modell 4.0 sicherlich nicht am Ende ist. Wir bleiben dran und gespannt.   

 

Weiterführende Quellen:  

  • Hamel, G. & Zannini, M. (2019): Das Ende der Bürokratie: Wie der chinesische Konzern Haier das Management neu erfindet – und was wir daraus lernen können. Harvard Business Manager 2019/01. 
  • Lee, M.Y., Wu-Yi Koo, W, Minnaer, J. (2022): Haier: Organising to Build a Smart Ecosystem Brand. Insead Case Study.  

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