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16. Juli 24

Das Zeit-Paradoxon langer Transitionsphasen

Zeitdynamiken am Beispiel von Restrukturierungsprojekten

Die Gestaltung der zeitlichen Dynamik ist unserer Erfahrung nach eine häufig unterschätzte Dimension in der Umsetzung von Veränderungsprozessen. Über die sequenzielle oder parallele Anordnung von Prozessschritten soll Übersichtlichkeit und Orientierung im Zeitverlauf hergestellt werden. Als Orientierungspunkte dienen dabei Meilensteine wie Gremiensitzungen oder der geplante Abschluss von Teilprojekten, im Ergebnis entsteht eine Prozessarchitektur.

Dabei wird meist angenommen, dass die Botschaften dieser Prozessverläufe von allen Beteiligten in ähnlicher Form gelesen und wahrgenommen werden, insbesondere wenn man damit eine gut ausgearbeitete erläuternde Erzählung verbindet. Das Gegenteil ist leider häufig der Fall. Der Blick der Beteiligten und Betroffenen eines Veränderungsprozesses auf die eigene organisationale Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit ist sehr unterschiedlich und von individuellen und kollektiven Erwartungen geprägt. Diese "Verzerrungswinkel" prägen in weiterer Folge auch die Wahrnehmung der Prozessarchitektur. Wenn es in der Change-Begleitung gelingt, diese unterschiedlichen impliziten Blickrichtungen zu explizieren und im Idealfall besser zu synchronisieren, wird die beabsichtigte innere Orientierung und Zuversicht zumindest wahrscheinlicher.

Genau dadurch werden allerdings auch die Paradoxien in der zeitlichen Taktung eines Veränderungsprozesses deutlich:

  • Frühe Kommunikation und Auseinandersetzung in einer Transformation schafft Möglichkeiten für Resonanz, Verarbeitung und bessere Vorbereitung auf die neue Welt, erhöht aber gleichzeitig das Risiko unkontrollierbarer Dynamiken und Verzögerungen.
  • Späte Kommunikation und Auseinandersetzung in einer Transformation unterstützt die Laufruhe und Prozesskontrolle, erzeugt aber nach Verkündung häufig Vertrauensverlust, die Wahrnehmung geringer Selbstwirksamkeit und nicht selten eine gewisse Opferhaltung bei den Beteiligten.

An zwei Praxisbeispielen lässt sich dies kurz verdeutlichen:

Situation 1:

In einem international aufgestellten Unternehmen kommt man in einem Segment zu dem Schluss, dass ein Teil der Produktion vom deutschen Stammwerk ins benachbarte Ausland verlagert werden soll. Ein kleiner Kreis von 15 Personen weiß nun von diesem Vorhaben, das u.a. auch aus arbeitsrechtlichen Gründen erst ein halbes Jahr später kommuniziert und wiederum erst Monate später umgesetzt werden kann.

  • Wann ist der richtige Zeitpunkt diese Information an die Führungskräfte und Mitarbeitenden dieses Werkes weiterzugeben, die diese Transformation letztlich vorausschauend umsetzen müssen?
  • Wie sequenziert man in der Zwischenzeit die Abfolge einzelner Informationsschritte im Spannungsfeld zwischen der Glaubwürdigkeit und Integrität der Verantwortlichen und dem Bestreben, keine zu langen Perioden von Unsicherheit, Produktivitätsverlust und Turbulenz zu erzeugen?

Situation 2:

Ein Finanzdienstleister restrukturiert seinen Außendienst grundlegend. Gebietszuordnungen verändern sich, es wird ein Wachstums-Case angestrebt. Bisher gut etablierte Rollen fallen weg und werden durch neue Rollen substituiert, deren Zusammenspiel im neuen Verbund noch ungeübt ist. Der Organisation steckt außerdem noch ein Effizienzprogramm aus der Vergangenheit in den Knochen und zwischen dem "Big Bang" mit der Verlautbarung der neuen Organisation und dem tatsächlichen Go Live liegt mindestens ein Jahr. In dieser Zeit werden viele Personen, die die neue Organisation erfolgreich voranbringen sollen, noch nicht wissen, welche Rolle ihnen künftig zukommen wird, u.a. weil die Verhandlungen mit der Arbeitnehmer*innenvertretung und auch die internen Development-Center ihre Zeit brauchen.

  • Wie hält man die guten Leute in dieser langen Phase der Unsicherheit, und das in einem extrem kompetitiven Marktumfeld?
  • Wie geht man mit den Fantasien der Beteiligten zum zukünftigen Zusammenspiel um, wenn man dieses erst nach Besetzung der Schlüsselstellen konkret entwickeln kann?

Lange Transitionsphasen bergen typische Risiken

In den Beispielen wird deutlich, wie gerade der Umgang mit langen Übergangsphasen im Rahmen von Transformationen immer wieder typische Risiken schafft:

  • Die verantwortlichen Entscheidungsträger fokussieren auf einzelne besonders herausfordernde Kommunikationsereignisse und unterschätzen nach deren erfolgreicher Bewältigung, die sich parallel aufschaukelnden informellen Meinungswellen innerhalb der betroffenen Führungsebenen und in der Belegschaft, ggf. wird dann zu spät oder nur noch reaktiv kommuniziert.
  • Situationspotenziale für ein kreatives Einbringen in den Prozess und eine positive Zukunftsmobilisierung werden nicht oder zu spät genutzt, weil auf übergreifende Resonanzgruppen verzichtet wird, da "zu wenig im Prozess passiert".
  • Talente und Potenzialträger*innen werden entmutigt und verlassen die Organisation oder es werden ihnen – wenn auch meist aus ehrlichem Wohlwollen heraus – Versprechungen gemacht (z.B. neue Rollen und Qualifizierungen), die später nicht mehr eingehalten werden können.

Wie lässt sich das eigene Gespür für die Zeitperspektiven der Beteiligten erhöhen?

Philip Zimbardo und John Boyd erläutern in ihrem Buch "The Time Paradox / Psychologie der Zeit" wie unterschiedliche Zeitwahrnehmungen das menschliche Verhalten beeinflussen. Dabei identifizieren sie sechs Hauptzeitperspektiven, die erklären, wie Menschen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erleben und interpretieren:

Vergangenheitspositiv: Schwerpunkt auf positive, nostalgische Erinnerungen.
Vergangenheitsnegativ: Konzentration auf traumatische oder schmerzhafte Erinnerungen.
Gegenwartshedonistisch: Suche nach Freude und Vermeidung von Schmerz, Fokus auf das Hier und Jetzt.
Gegenwartsfatalistisch: Überzeugung, dass das Schicksal unveränderlich ist und eigene Bemühungen wenig bewirken.
Zukunftsorientiert: Planen und Vorbereiten auf zukünftige Erfolge und Ziele.
Transzendentale Zukunft: Überzeugung in ein Leben nach dem Tod, wobei Entscheidungen im Hinblick auf ein ewiges Dasein getroffen werden.

Folgt man dieser Unterscheidung, lässt sich leicht nachvollziehen, wie bedeutsam ein asynchrones Erleben für die Wirksamkeit von Transformationen werden kann. Offensichtlich zielen eine Prozessarchitektur oder eine Change-Story in einem Transformationsprozess meist auf die Erhaltung von Optimismus und Zukunftsorientierung der Beteiligten ab. Was aber, wenn diese mit einem vergangenheitsnegativen oder gar gegenwartsfatalistischen Blick gelesen wird. Dann klingen manche Statements vielleicht so: "Auch die letzte sogenannte Wachstumsinitiative war letztlich nur ein verkapptes Einsparprogramm. Wir können das ohnehin nicht beeinflussen, das ist doch alles schon längst entschieden. Am Ende sind wir wieder die Dummen".

Eine gute Prozessarchitektur schafft Räume und Chancen für Resonanz und Auseinandersetzung zu den unterschiedlichen Wahrnehmungen

Zimbardo und Boyd betonen die Bedeutung einer ausgewogenen Zeitperspektive, bei der positive Aspekte der Vergangenheit, ein gutes Erleben der Gegenwart und eine verantwortungsbewusste Planung der Zukunft kombiniert werden können.

In Veränderungsprozessen sollten daher Räume geschaffen werden, die es ermöglichen Vermutungen, Deutungen und innere Landkarten der Beteiligten zu explizieren und zu verstehen. Dies kann nur durch Dialog und persönliche Auseinandersetzung gelingen. Entscheidend dabei ist vor allem der übergreifende Austausch zwischen den beteiligten Rollen und Mitarbeitenden. Den Rahmen und ein allparteiliches Containment dafür können interne oder externe Beratungsfunktionen bereitstellen. Das Zeit-Paradoxon kann somit nicht aufgelöst, aber es kann aktiv angenommen werden und kreativ aufgesetzte Resonanz- und Review-Veranstaltungen können dafür ein guter Rahmen sein. Sie sind wichtige Elemente in einer Prozessarchitektur, um Projektfortgang und subjektives Erleben zu verkoppeln und eine konstruktive Lösungsorientierung zu stimulieren.

Literatur:

Zimbardo, P. ; Boyd, J. (2009): Die neue Psychologie der Zeit. Spektrum Verlag.

Rosa, H.: (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Suhrkamp Verlag

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