26. Juli 22
Erfahrung mit Selbstorganisation in hierarchischen Organisationen - zur Quadratur des Kreises –
Es klingt verführerisch: Das Team wird nicht mehr durch die eine Führungsperson organisiert und gesteuert, sondern die Komplexität wird gemeinsam geteilt und miteinander organisiert. So können wir Verantwortung auf alle Schultern verteilen – wunderbar!
Wirklich wunderbar? Wie weit kann das Modell der Kreisorganisation (beschrieben von: Oestereich und Schröder: "Das kollegial geführte Unternehmen") auch auf einzelne Organisationseinheiten angewendet werden? Wie gut gelingt es, in einer sonst eher hierarchisch aufgestellten Organisation als selbstorganisiertes Team zu arbeiten? Wir haben einige Unternehmen erlebt, in denen die wirklich wertvollen Impulse auf Team- oder Abteilungsebene umgesetzt werden. Dabei haben wir einige Beobachtungen gemacht, die wir hier teilen wollen – verknüpft mit Hinweisen, worauf Sie unbedingt achten sollten, um diese Diversität in der Organisation gut zu gestalten.
In unserem Fortsetzungsblog beschreiben wir diese Perspektiven etwas ausführlicher – wer mag, schaue bitte auch dort hinein.
Es sind vor allem Fragen zu Ressourcen bzw. Überlastung, der Kopplung zum Kunden/zur Kundin, zu Selbstverantwortung und Komplexität, die die Teams, die wir begleiten oder gesprochen haben, umtreiben und die wir hier behandeln:
1. Wie gehen wir mit unseren Ressourcen und vor allem Überlastung um?
Geschäftskreise sollen direkt die Abwicklung der Kundenaufträge sichern. Dabei sind sie in hierarchischen Organisationen oft nach Leistungen und Aufgabenschwerpunkten, also nach Fachlichkeit organisiert und erhalten ihre Aufträge von mehreren Kund*innen. Oft ist es nicht möglich, dies vollständig aufzubrechen. Wir finden also weniger eine vollständige Umsetzung des Kreismodells, sondern unterschiedliche Mischformen.
Im Kreismodell sind Geschäftskreise Ermöglicher, die alle erforderlichen Ressourcen zur Verfügung haben und optimal aufgestellt sein sollten, um produktiv zu sein. Im beschriebenen Ideal kann so auch die Priorisierung direkt im Geschäftskreis stattfinden, in enger Absprache mit dem Kunden/der Kundin und mit selbstständigem Blick auf das Budget.
Die Organisationsrealität sieht aber anders aus: Personalmangel gibt es überall, die Aufträge sind nicht zu schaffen, der Geschäftskreis kann nicht selbstständig über den Budgeteinsatz entscheiden. Wer kann also priorisieren – und wer enttäuscht den Kunden/die Kundin? Im hierarchischen Modell ist dies die vornehmste Aufgabe von Führung. Durch das Führungssystem können Prioritäten geklärt werden, auch wenn das oft ebenfalls nicht ausreichend der Fall ist und mehr zugesagt wird als möglich ist. Für ein Team in Selbstorganisation ist also die erste Frage: Wie gestalten wir unsere Schnittstelle zum Führungssystem und zu denjenigen, die uns Ressourcen bereitstellen können, unsere Entscheidungen (z.B. Priorisierung) absichern, uns in die Budgetverwaltung einbeziehen – und dies den Kund*innen gegenüber auch vertreten?
Wir empfehlen, diese Fragen frühzeitig zu thematisieren. Dabei kann gut schrittweise vorgegangen werden und sozusagen gemeinsam geübt und Vertrauen entwickelt werden. Wichtiger als die ideale Lösung von Anfang an sind hier Klarheit und iteratives Vorgehen.
Das bringt uns zur zweiten relevanten Frage:
2. Wie gelingt uns die Kopplung zu den Kund*innen, wenn die Führungskraft nicht mehr erster Ansprechpartner ist?
Wir hören immer wieder, dass in der Kommunikation von Unternehmen (Kund*in) zu Unternehmen (Auftragnehmer*in) die "Hierarchen unter sich" kommunizieren, die Form wird gewahrt. Darunter kann schon das Key Account Management leiden: Wer darf z.B. im Vertrieb eigentlich mit welcher Rolle bei den Kund*innen kommunizieren?
In der Kreisorganisation gewinnt dies an zusätzlicher Brisanz: Wenn die Geschäftskreise selbst die Kommunikation mit den Kund*innen sichern, braucht das auch die organisationale Anschlussfähigkeit beim Geschäftspartner/bei der Geschäftspartnerin: An wen wende ich mich im Team, wenn alle verantwortlich sind? Wie wirkt es auf mich als Geschäftspartner*in, der noch ganz im hierarchischen Modell beheimatet ist?
Im Design ist also darauf zu achten, die einzelnen Rollen wertig zu beschreiben und bei der Implementierung des neuen Modells den Kunden/die Kundin gut mitzunehmen, damit sich keine Schleichwege entwickeln, die das System unterlaufen. Für Führung gilt es hier, abstinent zu sein, der Verlockung des frühen Eingreifens zu widerstehen - und dies den Kund*innen gegenüber auch immer wieder zu vertreten und ihnen ihre Vorteile des Modells aufzuzeigen.
3. Wie entwickeln wir persönlich das erforderliche Maß an Selbstverantwortung?
Führung übernimmt die Funktion, "Verantwortung zu tragen" und Mitarbeiter*innen geben diese entsprechend in hierarchischen Organisationen ein Stück weit an ihre Führung ab. Eigentlich für beide Seiten eine Win-Win-Situation. So einfach ist es zwar nie, in der Realität übernehmen Mitarbeiter*innen in ganz unterschiedlicher Ausprägung natürlich auch übergeordnete Verantwortung. Das geschieht allerdings oft eher informell, manchmal aus der Not nicht getroffener Entscheidungen heraus. Und eben auch nicht alle.
In selbstorganisierten Teams gehört es zwingend zum Programm, dass alle die Verantwortung für den Geschäftserfolg in ihrem Verantwortungsbereich auch formell gemeinsam tragen – einer der relevantesten Unterschiede zum herkömmlichen Teammodell.
Das ist ein "new deal" für viele, die über Jahre das Muster trainiert haben, sich aus Fragen, die sie nicht direkt betreffen, herauszuhalten. Und nun braucht das System Menschen, die selbst Verantwortung über die eigene Leistungserbringung hinaus übernehmen. Dies ist aus unserer Sicht der relevanteste Change im Verlauf: Trainieren, selbst ganzheitliche Verantwortung zu übernehmen und auszuhalten, dass es auch eine Verantwortung für Missstände, Schwachstellen und Lieferverzögerungen - und für die Kolleg*innen - gibt. Hier entsteht eine neue Anforderung im sozialen Kontext: Konflikte müssen gemeinsam gelöst werden und gegenseitige Kritik muss möglich sein. Was im hierarchischen Modell gut an Führung delegiert werden kann, braucht in der Selbstorganisation oft eine Anfangsunterstützung oder bestimmte Rollen, wie z.B. agile Coaches, die moderierend eingreifen. Natürlich hilft dabei, wenn es im Team gelingt, eine lernende Haltung und Neugier auf Fehler zu implementieren.
Was uns zu unserem letzten Punkt führt:
4. Wie gehen wir mit der Komplexität wirklich um – wie gelingt uns der Metablick?
Selbstorganisierte Teams müssen sehr viel mehr Themen als vorher gemeinsam "auf dem Schirm" haben: People, Finance, Organisation, ... dazu Kund*innenfokus, Effizienz und Wirksamkeit. In den Geschäftskreisen wird gedacht, geplant, produziert, reflektiert – von allen und mit direktem Kontakt zu den Bedarfen der Kund*innen – das ist der große Zugewinn.
Aber: Wie gut gelingt es, den Kopf aus dem Alltag heraus auf die Metaebene zu bringen und in Retros und Reviews die Arbeit zurück und nach vorn zu reflektieren, um schließlich auch das Potenzial des Teams zu heben? Viele Teams sind damit hoffnungslos überfordert und verlieren sich im Klein-Klein oder Groß-Groß. Die durch die Selbstorganisation erhoffte Effizienz geht schnell verloren, wenn alle endlos über alles reden wollen oder sich in Details verlieren.
Das kann man nur durch feste Meetingstrukturen, enge Moderation, eine gute, abgestimmte Verteilung der Rollen (wer kümmert sich um welches Thema) und vor allem eine geübte Feedbackkultur in den Griff bekommen. Und natürlich über das Vertrauen, dass sich der Kümmerer sehr gut kümmern kann und ich nicht überall auch noch mitreden muss.
Eine große Herausforderung für Teams – wahrscheinlich die größte überhaupt - ist es, ehrlich Feedback zu geben, Lösungsorientierung praktisch zu leben, den Blick auf das Große Ganze (gern systemisch?) zu trainieren und ressourcenorientiert auch pragmatische Lösungen zu lieben. Gleichzeitig starten sie damit einen Veränderungsprozess, der wichtige Impulse in die gesamte Organisation liefern kann.
In Summe: Es ist viel Musik in der Entscheidung, in Richtung Selbstorganisation zu gehen. Auch wenn manche Lösungen neue Probleme erzeugen – es ist gut, darauf eingestellt zu sein und zu sehen, dass nicht alles gleich perfekt sein wird.
Aus unserer Sicht lohnt es sich, packen Sie es an!