15. März 16
Gefangen in der Paradoxie
Zur Praxis von Potenzialeinschätzungen in mittelständischen Familienunternehmen - ein Interview mit Dr. Ernst Domayer geführt von Herta Fischer
Herta Fischer: Was ist aus deiner Erfahrung der wesentliche Unterschied in der Potenzialeinschätzung zwischen Familienunternehmen und anderen Unternehmen?
Ernst Domayer: Wenn wir von Familienunternehmen im Unterschied zu anderen, Nicht-Familienunternehmen sprechen, müssen wir die Familienunternehmen auf mittelständische Unternehmen eingrenzen, im besonderen auf solche in der Pionierphase. Dort ist der Unterschied am deutlichsten. Wenn das Familienunternehmen wächst, eventuell auch konzernförmiger wird oder seit mehreren Generationen besteht, nähern sich die Vorgehensweisen an und wir können kaum noch Unterschiede feststellen. Familienunternehmen agieren dann genau so, wie wir das üblicherweise von Konzernen kennen. Ich beziehe mich im Folgenden daher ausschließlich auf Familienunternehmen mittelständischer Größe, die noch von der Gründergeneration geleitet werden. Meine Erfahrung mit diesen Familienunternehmen ist, dass die professionelle Form der Potenzialeinschätzung in der Regel gar nicht erst stattfindet. Diese Unternehmen sind gewissermaßen methoden-avers. Sie sind nicht überzeugt, dass Methoden der Potenzialeinschätzung einen Mehrwert generieren. Es gibt für sie keine Alternative zum eigenen Urteil, dem eigenen Gespür zu vertrauen. Auch wenn sie dabei enttäuscht werden, weil es nicht so richtig funktioniert, halten sie dennoch daran fest.
Herta Fischer: Wie erklärst du dir dieses Festhalten an diesem Entscheidungsmuster?
Ernst Domayer: Es liegt im Anspruch des Unternehmers, Menschenkenntnis zu besitzen. Der Gründer hat die Mitarbeiter der ersten Stunde selber ausgewählt, er hat sie nicht von jemandem einschätzen lassen. Das hat funktioniert, sonst hätte das Unternehmen ja nicht Erfolg gehabt und überlebt. An dieser Strategie hält man fest. Es gibt auch Situationen, in denen Gründer in eine gewisse Entscheidungsnot kommen, wo sie mehr Sicherheit benötigen als nur der eigenen Intuition zu trauen und sich an einen Berater wenden. Dabei ist für sie aber nicht die Methode einer bestimmten Potenzialeinschätzung relevant, sondern das Vertrauen zum Berater. Sie vertrauen dem Berater, d.h. der Person und nicht den Methoden, die er anwendet.
Herta Fischer: Wie sehr nehmen Nachfolgerinnen und Nachfolger Potenzialeinschätzungen in Anspruch, um für sich eine bessere Entscheidungsbasis für Karriereentscheidungen und die berufliche Entwicklung zu haben?
Ernst Domayer: Es gibt natürlich Einzelfälle, die das tun. Es ist aber nicht wirklich üblich. Ich denke mir oft, dass Kinder von Unternehmereltern es richtig schwer haben, eine angemessene Selbsteinschätzung und Selbstreflexion zu entwickeln. Sie schwanken häufig zwischen "Größen-Ideen" und "Kleinheits-Ängsten". Sie tun sich schwer zu sagen, ich möchte mir genauer anschauen, wo stehe ich wirklich, was ergibt eine unabhängige Standortbestimmung, unabhängig von den Zuschreibungen der Eltern, seien es negative oder positive Zuschreibungen. Da eine realistische Selbstbeobachtung und Selbstreflexion im Unternehmen der eigenen Eltern so schwierig ist, empfiehlt es sich für Nachfolgerinnen und Nachfolger, auch außerhalb des Familienunternehmens in anderen Organisationen Berufserfahrung zu sammeln. In einem anderen Kontext ist es viel leichter, objektives Feedback zu bekommen. Und das ist für die Entwicklung jeder Führungskraft unbedingt notwendig. Ich beobachte einen großen Bedarf an Potenzialeinschätzungen, die in vielen Fällen sowohl für die betroffenen Personen als auch für das Unternehmen Sinn machen würden. Und gleichzeitig beobachte ich, dass in mittelständischen Familienunternehmen strukturierte Potenzialeinschätzungsmethoden so gut wie nicht genutzt werden.
Herta Fischer: Was macht es diesen Unternehmen so schwer, professionelle Diagnoseinstrumente bei der Potenzialeinschätzung von Nachfolgerinnen und Nachfolgern einzusetzen?
Ernst Domayer: Um das fundiert zu beantworten, müsste man genauer differenzieren, welche Typen von Familie bzw. auch Persönlichkeit diese Methoden nutzen und welche nicht. Solche Untersuchungen gibt es nicht. Ich erlebe in meiner Praxis immer wieder, dass die Potenzialeinschätzung von Familienmitgliedern unter Einbeziehung der Eltern sehr schwierig und in gewissen Konstellationen sogar unmöglich ist. Wenn Senioren sagen, mein "Lebenswerk" hat nur dann einen Sinn, wenn es in der Familie bleibt, dann wird nicht zugelassen, dass kritische Bilder entstehen oder so etwas wie eine Eignungsabschätzung erfolgt.
Eine Differenzierung "geeignet" - "nicht geeignet" als Nachfolger ist damit unmöglich. Auch wenn die Zahlen deutlich dagegen sprechen und es offensichtlich ist, dass der Sohn oder die Tochter das nicht "hinbekommt", hält der Vater/die Mutter eisern daran fest. Sie sagen: "Ich kann mein Kind nicht fallen lassen." Ich kenne auch Fälle, in denen der Vater dem Sohn die Führung des Unternehmens nicht zugetraut hat. Der Sohn hat sein eigenes Unternehmen gegründet und dem Vater bewiesen, dass er es doch kann. Was jedoch der Vater auch wieder nicht zur Kenntnis nehmen konnte. Es herrschen leider sehr oft wunsch- und überzeugungsgetriebene Zuschreibungen, die eine realitätsnahe Einschätzung unmöglich machen. Und zwar in beide Richtungen. Es erfordert eine anspruchsvolle Stufe der Reflexion, der Selbstdistanzierung und Selbstkritik, um die eigenen Kinder als geeignete Nachfolger einzuschätzen, ohne sie abzuwerten oder sie zu überhöhen.
Und auch wenn eine solche Einschätzung gelingt, gibt es oft viele Faktoren - firmenpolitische, eigentumsbezogene, Fragen der Altersvorsorge usw. - die nur eine Option in Betracht kommen lassen: Es muss gelingen! Der Sohn oder die Tochter wird es schon schaffen!
Herta Fischer: Statt in diesen erfolgsrelevanten Entscheidungen genauer hinzusehen und sich professioneller Methoden zu bedienen, beobachtest du also häufig die Strategie "Augen zu und durch!"
Ernst Domayer: Ich erlebe einen Gap zwischen dem, was sinnvoll oder sogar überlebenswichtig für das Unternehmen ist und dem, was und wie es umgesetzt wird, weil das Familiäre das Thema dominiert. Die familiäre Gebundenheit lässt häufig nur bestimmte Entscheidungen zu.
Herta Fischer: Was ist aus deiner Sicht für den erfolgreichen Einsatz von Potenzialeinschätzung in mittelständischen Familienunternehmen wichtig?
Ernst Domayer: Bei der Potenzialanalyse von designierten Nachfolgern ist für mich entscheidend, dass eine wirkliche Wahlmöglichkeit besteht. Wenn diese Voraussetzung nicht gegeben ist, wird die Überprüfung von Kompetenzen, Eignungen und Motivationen durch externe Experten sinnlos. Ich halte es für wichtig, einen Berater beizuziehen, der professionelle Methoden anbietet. Es ist erschreckend, welchen Methoden oft vertraut wird. Mir ist da schon vieles untergekommen, von Grafologie über Astrologie bis hin zu absolut nicht hinterfragten Empfehlungen von Freunden.
In der professionellen Durchführung der Potenzialeinschätzung selbst, sehe ich keine Unterschiede zwischen Familienunternehmen und anderen Unternehmen. Ich setze die gleichen Diagnosetools ein, z.B. Hogan und OPQ und vereinbare einen transparenten Prozess mit allen Beteiligten. Ich habe schon erwähnt, dass den Methoden der Potenzialeinschätzung nicht so vertraut wird. Wenn es allerdings gelingt, ein klares Anforderungsprofil zu entwickeln, erhöht das die Akzeptanz der Methode sehr. Wenn klar erarbeitet wird, was die Firma in Zukunft braucht und welche Herausforderungen zu meistern sind, steigt das Verständnis für die Komplexität der Entscheidung und es macht Sinn, Methoden einzusetzen, die eine differenzierte Betrachtung ermöglichen.
Rückfragen: Dr. Ernst Domayer und Herta Fischer