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01. Oktober 19

Gelebte Selbstorganisation: Herausforderungen und Lösungsansätze

Es gibt eine Reihe von Mythen, die sich um Selbstorganisation ranken:

  • Selbstorganisation ist ein Paradies für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
  • Führung verschwindet.
  • Nichts ist festgelegt, alles kann gemeinsam entschieden werden.
  • Wenn gemeinsam entschieden wird, dann im Konsens.

Die Realität sieht spürbar anders aus. Wir haben mit einigen unserer Kunden Interviews zu praktizierten Formen der Selbstorganisation geführt. Deutlich wurde: Es gibt ähnliche Herausforderungen und vielfältige Lösungsansätze. Drei Fragen haben sich dabei als wesentlich herauskristallisiert: Was bedeutet Selbstorganisation für das Team? Wie verändert sich die Rolle von Führung? In welchen Bereichen ist die Organisation besonders betroffen?

Teams - Zwischen Freiheit und Überforderung

  • Teams stehen vor der Herausforderung, gemeinsam einen neuen Grad von Entscheidungskompetenz zu erwerben. Je länger der Konsensmodus unausgesprochen vorausgesetzt wird, desto mehr verlangsamen sich Prozesse, Effizienz bleibt aus, die Motivation aller Beteiligten sinkt. Selbstorganisation erfordert, sich mit neuen Entscheidungsmodi auseinanderzusetzen, die erheblich zur Effizienz von Entscheidungsprozessen beitragen können: Dazu zählen Konsent, Systemisches Konsensieren und der Konsultative Einzelentscheid. Für jedes anstehende Thema sollte zunächst explizit der geeignete Entscheidungsmodus bestimmt und parallel dazu immer wieder das gelebte Entscheidungsverhalten konstruktiv reflektiert werden. Und schließlich sollten sich Teams regelmäßig fragen, was sie NICHT tun wollen, denn auch dieser allzu oft verdrängte Aspekt gehört zum Entscheiden.
  • Erschwerend für den Erfolg von Selbstorganisation kann das Entstehen informeller Teamdynamiken sein. Die formelle Hierarchie existiert zwar nicht mehr, aber es können sich informelle Hierarchien bilden - ggf. unterstützt durch besondere Expertise, gewachsene Strukturen, die wiederholte Übernahme zeitweiliger Führungsrollen. "Lautere" setzen sich gegenüber "Leiseren" durch; High Performer dominieren sogenannte Low Performer. Aus Angst vor Konflikten werden abweichende Meinungen nicht angesprochen und "Andersartiges" wird ausgegrenzt. Unterschiedlichkeit kann dann nicht (mehr) konstruktiv genutzt werden. Die Folge ist inhaltliche Verarmung. Unsere Kunden nutzen unterschiedliche Formen von Retrospektiven, um solche Dynamiken besprechbar zu machen. Entscheidend für den Erfolg ist dabei Kontinuität.
  • Schließlich ist in selbstorganisierten Teams das Entstehen impliziter kollektiver Normen zu beobachten, die auch ungewollte Dynamiken entwickeln können. Etwa wenn es früher leichter war, gegen den Chef wegen Überlastung zu rebellieren, als sich jetzt gegen die (unausgesprochenen) hohen Erwartungen der Kolleginnen und Kollegen zu stellen. Damit entsteht die Gefahr, dass sich Teams sukzessive in die freiwillige Selbstausbeutung manövrieren. Neben dem Alltag braucht das Team daher Zeit, gelebte - und darin oft unbewusste - Normen zu reflektieren. Einen guten Einstieg bietet die Auseinandersetzung mit organisationalen Glaubenssätzen.

Führungskräfte - An der Schnittstelle zwischen New Work und Linie

  • Selbstorganisation erfordert nicht einfach den "Rückzug" von Führungskräften, sondern eine neue Rolle von Führung - angepasst an den Entwicklungsstand des selbstorganisierten Teams. Eine zentrale Erfahrung unserer Kunden: Wenn sich Führungskräfte allzu schnell aus ihrer bisherigen Führungsrolle zurückziehen, entstehen Chaos, Entmutigung und Verlangsamung. Wichtig für eine gelungene Staffelübergabe ist, dass die Führungskraft zu Beginn klare Leitplanken für die Selbstorganisation kommuniziert: In welchem Rahmen kann und soll das Team in eine neue Eigenverantwortung hineinwachsen? Bei der Ausgestaltung dieser Eigenverantwortung muss die Führungskraft immer wieder gemeinsam mit dem Team abwägen, wie viel Freiheit schon machbar und wie viel Begleitung noch notwendig ist (vgl. dazu vertiefend den Newsletter-Artikel "Führungskräfte führen in die Selbstorganisation").
  • Selbstorganisierte Teams entstehen häufig in einem Umfeld, das weiterhin hierarchischen Regeln folgt. Die Rest-Organisation bevorzugt aus Bequemlichkeit die "alten" Ansprechpersonen. Hier kommt Führungskräften in der gelebten Praxis nicht selten die Rolle eines "Außenministers" zu. Sie müssen die Logiken beider Kulturen verstehen und überzeugend leben.

Organisation - Das Zusammenspiel von Selbstorganisation und hierarchischer Organisation gestalten

  • Wenn Organisationen die Bildung selbstorganisierter Teams unterstützen, ergeben sich in vielerlei Hinsicht Widersprüche mit fest verankerten Verfahren: Wie bewertet man die Leistung einzelner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wenn das Team intern flexibel über die Aufgabenverteilung entscheidet? Wie legt man Status und Vergütung einer Führungskraft fest, die in eine stärker coachende Rolle gewechselt ist? Wie wird Führungsverantwortung zugeordnet, um rechtlichen Erfordernissen Rechnung tragen zu können? ... Zu solchen Fragen entsteht aktuell ein interessanter Austausch zwischen Unternehmen. 1
  • Der größte Widerstand gegen das Etablieren selbstorganisierter Teams entsteht oft bei Führungskräften, die ihre künftige Rolle und ihren Status gefährdet sehen. Bei einem unserer Kunden wurde dem neu formierten selbstorganisierten Team von den "alten" Führungskräften des Bereiches eine Aufgabe übertragen, die sich ziemlich schnell als gar nicht lösbar erwies. Hier ist flankierend das Engagement der Geschäftsführung gefordert: Sie muss einen konstruktiven Dialog zwischen selbstorganisierten und hierarchisch operierenden Organisationseinheiten unterstützen. Einige Kunden berichteten, dass ihr Unternehmen das Lernpotenzial ihrer Erfahrungen zu Selbstorganisation eher verschenkt hat. Bei anderen Kunden gibt es inspirierende Ansätze wie regelmäßige Reviews oder Barcamps, in denen die Mitglieder selbstorganisierter Teams mit Mitarbeiterinnen, Mitarbeitern und Führungskräften anderer Organisationseinheiten ins Gespräch kommen. Allein durch das offene Ansprechen ihrer Erfahrungen und Fails leisten sie einen spürbaren Beitrag zum Herausbilden eines neuen Mindsets in der Gesamtorganisation.

Last but not least: All unsere Gespräche zeigen, dass es nicht DAS selbstorganisierte Team gibt. Selbstorganisation entsteht immer in einem ganz eigenen organisationalen Kontext und ist ein fortlaufendes Experiment. Es geht darum, "auf dem Weg zu sein und darüber im Gespräch zu bleiben" - auf jeweils ganz eigene Weise.

 

Vgl. u.a. Martin Ritter / Christian Grosenick: Flexible Zuordnung der Führungsverantwortung in agilen Organisationsmodellen bei der Deutschen Bahn, ZOE 2/19, S. 31-36

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