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29. Oktober 24

Mit dem zweiten (Pol) sieht man besser: Paradoxien erkennen und erfolgreich managen

"The test of a first-rate intelligence is the ability to hold two truths in mind at the same time, and still retain the ability to function." F. Scott Fitzgerald

Organisationen, Führungskräfte und Mitarbeitende sind heute mit einem Umfeld konfrontiert, das gerne mit Akronymen wie VUCA (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) oder BANI (Brittle, Anxious, Non-linear, Incomprehensible) beschrieben wird, und im Kern unbeständig, komplex und mehrdeutig ist. Im Mittelpunkt der erlebten Führungswirklichkeit stehen oftmals Widersprüche, die sich in geradezu allen Facetten des Organisationslebens zeigen. Ob in der Führung (Kontrolle vs. Empowerment), der Teamarbeit (Aufgabe vs. Beziehungen), der Strategie (Wettbewerb und Zusammenarbeit), dem Organisationsdesign (zentral vs. dezentral) oder auch auf individueller Ebene (Work vs. Life): Die erlebten Spannungen basieren oftmals auf Paradoxien, die heute in der Organisationsforschung als widersprüchliche, sich wechselseitig bedingende und andauernde Pole verstanden werden (Smith & Lewis, 2022).

Drei Beispiele aus der Praxis

  1. In einem international tätigen Maschinenbauunternehmen kommt es zu Überlastungsphänomenen bei einzelnen Mitgliedern der Geschäftsleitung. Der Umgang mit den hohen Qualitätsansprüchen an die Produktentwicklungen (hoher Zuverlässigkeitsanspruch) und der wirtschaftlich notwendigen Schnelligkeit der Entwicklung neuer Produkte (Stichwort: "faster time to market") erzeugt viel Druck und Unsicherheit und führt zur Polarisierung im Team.
     
  2. In einem gewerblichen Unternehmen wird durch die Einführung digitaler Steuerungs- und Dokumentationssysteme sichtbar, dass Mitarbeitende die Regeln der Zeiterfassung – vorsichtig gesagt – großzügig praktizieren und nicht individuell auschecken, sondern Kolleg*innen für bereits auf dem Heimweg befindliche Mitarbeiter*innen auschecken. Der Ruf nach konsequenter und stringenter Führung mündet rasch in wechselseitigem Misstrauen. Im Ergebnis entsteht ein Teufelskreis aus Misstrauen und harter Führungskommunikation – im Kontext eines extrem angespannten Fachkräftemarkts und permanent unbesetzter Stellen fatal für das Unternehmen.
     
  3. In einem Unternehmen der Gesundheitsbranche entsteht im Rahmen der Arbeit am zukünftigen Organisationsdesign eine intensive Diskussion über die Anforderungen an die Ausgestaltung der Organisation. Die Führungskraft eines Geschäftsbereichs meldet sich: "Herr Schumacher, das geht doch so nicht: Man kann doch nicht gleichzeitig Kosten optimieren und Innovation betreiben".

Für diese und ähnlich gelagerte Herausforderungen finden sich in der jüngeren Führungs- und Managementliteratur vielfältig Bezeichnungen wie z.B. Ambidextrie, Management von Widersprüchen oder Dichotomien, Dilemmata, Paradoxien, Spannungen, Theorie X und Y, um nur einige zu nennen.

Die Sicht der Forschung 

In der Organisationsforschung ist die Anzahl an Studien und Beiträgen zum Umgang mit Paradoxien und Polaritäten in den letzten Jahren rasant gestiegen. Die Ergebnisse zeigen unter anderem, dass in dem Maße, in dem Komplexität, Wandel und Mehrdeutigkeit in Organisationen zunehmen, auch die Bedeutung paradoxer Sicht- und Umgangsweisen wie etwa von Sowohl-als-auch-Ansätzen zunimmt (Schad et al., 2016).

Studien weisen nach, dass die Leistungsfähigkeit von Organisationen, Führungskräften, Teams und Einzelpersonen höher ist, wenn sie angemessen mit Paradoxien umgehen (siehe u.a. Miron-Spektor et al., 2018). Essenziell für Führung und Zusammenarbeit in Organisationen ist es deshalb, sich kollektiv und individuell der Paradoxien bewusster zu werden, einen konstruktiven Umgang zu entwickeln und ihre Auswirkungen zu verstehen. Paradoxien stellen dabei ein sogenanntes "Schwellenkonzept" dar, dass die Art und Weise, wie Einzelne und Organisationen über konkurrierende Spannungen nachdenken und auf sie reagieren, unwiderruflich verändert ("... ah, so habe ich das ja noch nicht gesehen"). Hierin liegen für die Organisations- und Führungsentwicklung bislang weitgehend vernachlässigte Möglichkeiten, Führungskräfte dabei zu unterstützen, sich auf Paradoxien einzulassen und wirksamer mit ihnen umzugehen, statt sie (vergeblich) lösen zu wollen (Knight & Paroutis, 2017).

Paradoxien werden heute in der Organisationsforschung als eine Familie von Konzepten verstanden, zu denen u.a. Spannungen, Widersprüche, Polaritäten, konkurrierende Werte und Variationen von Gegensätzen gehören (Fairhurst & Putnam, 2023). Das Management mit Paradoxien in Organisationen wird dadurch erschwert, dass sie oft nur latent sind.

Ob nun latent oder offensichtlich: Kritisch am Umgang mit Spannungsfeldern sind nicht die widersprüchlichen, anhaltenden Interdependenzen per se. Erst der Versuch, die interdependenten Widersprüche mit einer Entweder-oder-Logik zu "lösen", führt häufig zu Polarisierungen und Teufelskreisen. Um es mit den Worten von Paul Watzlawick zu formulieren, ist nicht das Problem das Problem, sondern die Art und Weise, wie wir über das Problem denken (Watzlawick et al., 1985).

Wirksame Bearbeitung

Polaritäten werden oft fälschlicherweise als Problem behandelt, das es im Sinne eines Entweder-oder zu lösen gilt (ein Chirurg beschrieb mir kürzlich: "Herr Schumacher, wenn ich am Tisch stehe, dann muss ich doch auch entscheiden, ob ich schneide oder nicht"). Dabei erfordert gerade die Persistenz der Polarität (im Sinne eines anhaltenden Gegensatzes wie z.B. zwischen Stabilität und Wandel oder Teil und Ganzes) einen Umgang, der die Interdependenz sichtbar macht, dauerhaft berücksichtigt und beide Pole einbezieht, statt das eine auf Kosten des anderen übermäßig zu fokussieren.

Eine Möglichkeit Spannungsfelder in Führung und Organisation sichtbar zu machen und mit ihnen zu arbeiten, bietet die von Barry Johnson im Zusammenhang mit der Polarity Map® (Johnson, 2020) entwickelte Vorgehensweise: Dazu werden beide Pole im ersten Schritt als positiv oder neutral beschrieben.

Im Fall des eingangs beschriebenen Maschinenbauunternehmens arbeiteten wir im Team zunächst die beiden Pole "Geschwindigkeit in der Entwicklung" und "Qualität der Produkte" heraus. Dieser erste Schritt brachte schon früh die Erkenntnis, dass es sich nicht um ein Problem, sondern eine dauerhaft anhaltende Polarität handelte.

In der weiteren Folge erarbeitete das Team die Vor- und Nachteile der beiden Pole. Schnell wurde für alle Seiten entlastend klar, dass es wesentlich lohnender ist, die Interdependenz der beiden Seiten zu maximieren, statt sich durch ein Entweder-oder noch tiefer in einen Teufelskreis zu bewegen.

Die fragebogengestützte Bewertung der aktuellen Praxis im Umgang mit dieser Polarität förderte im Anschluss eine komplexe Dynamik zutage, die bereits nahe an einem Teufelskreis war (siehe obenstehende Grafik). Es zeigte sich, dass die aktuelle Führungspraxis bereits im riskanten Bereich (39 von 100) angelangt war und die Anforderungen weder hinsichtlich Geschwindigkeit noch Qualität unterstützte.

Dieses Ergebnis war die Grundlage, um der Negativ-Spirale im Sinne des Weder-noch wirksam zu begegnen. Dafür wurden zum einen konkrete Aktionsschritte entwickelt, um die Vorteile beider Pole zu maximieren. Zum anderen identifizierten wir Frühwarnsignale, um zu antizipieren, wenn die Entwicklung in die falsche Richtung zeigte. So wurde beispielsweise ein neuer Umgang mit den Erwartungen bezüglich Timelines und Kosten etabliert und für frühzeitige Transparenz im Falle von Abweichungen gesorgt.

Das Vorgehen veranschaulicht exemplarisch, wie das Management von Polaritäten das Erreichen übergeordneter Ziele unterstützt und dabei hilft, die negativen Folgen einer einseitigen Fokussierung auf einen Pol zulasten des anderen zu vermeiden. Es schärft das problemübergreifende Bewusstsein für die Verbindung widersprüchlicher, interdependenter Pole und vorhersehbarer Dynamiken. Angesichts zunehmender Ressourcenknappheiten, Abhängigkeiten und Veränderungsprozesse in Organisationen und Gesellschaft wird das Sichtbarmachen latenter und salienter Spannungsfelder zur Voraussetzung für erfolgreiche zukünftige Führung.

Das gilt vor allem auch für Digitalisierungsprozesse. Studien zeigen, dass die Digitalisierung in Organisationen zu neuen Paradoxien führt, deren wirksame Bearbeitung in Zukunft erfolgsentscheidender wird. So führt etwa die vermehrte Verfügbarkeit von Daten bei gleichzeitiger Informationsüberflutung oder die wachsende Anzahl digitaler Möglichkeiten bei gleichzeitig zunehmendem Druck, die richtigen auszuwählen, zu vermehrten Spannungen (Schneider & Kokshagina, 2020).

Fazit

Für Führungskräfte und Mitarbeitende gilt es, Probleme und Polaritäten zu unterscheiden. Exzellente Führungskräfte nehmen Polaritäten frühzeitig und bewusst in den Blick, etablieren einen konstruktiven Umgang und setzen eine positive Dynamiken im Sinne eines Sowohl-als-auch in Gang.

Andernfalls drohen Teufelskreise, wie sie Benjamin Franklin mit Blick auf die aktuell wieder sehr salient werdende gesellschaftliche Polarität von Freiheit und Sicherheit formulierte: Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.

Literatur

  • Fairhurst, G. T., & Putnam, L. L. (2023). Performing organizational paradoxes. Taylor & Francis.
  • Johnson, B. (2020). And: Making a Difference by Leveraging Polarity, Paradox Or Dilemma. Foundations. Volume One. Hrd Press.
  • Knight, E., & Paroutis, S. (2017). Expanding the paradox–pedagogy links: Paradox as a threshold concept in management education.
  • Miron-Spektor, E., Ingram, A., Keller, J., Smith, W. K., & Lewis, M. W. (2018). Microfoundations of organizational paradox: The problem is how we think about the problem. Academy of management journal, 61(1), 26-45.
  • Schad, J., Lewis, M. W., Raisch, S., & Smith, W. K. (2016). Paradox research in management science: Looking back to move forward. Academy of management annals, 10(1), 5-64.
  • Schneider, S., & Kokshagina, O. (2020). Digital Technologies in the Workplace: A Ne (s) t of Paradoxes.
  • Smith, W., & Lewis, M. (2022). Both/and thinking: Embracing creative tensions to solve your toughest problems. Harvard Business Press.
  • Watzlawick, P., Beavin, J., & Jackson, D. (1985). Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien (8. Auflage ed.). Huber.

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