28. November 17
Ohne Sensibilität keine Responsiveness
Führungskräfte in Organisationen reagieren sehr unterschiedlich auf die Herausforderungen der digitalen Transformation: Manche verleugnen die Relevanz - selbst wenn die gesamte Branche bereits im Umbruch ist - andere verteufeln die gesellschaftlichen Auswirkungen, wieder andere beschreiben die digitale Transformation als potentiellen Heilsbringer, viele unterschätzen die disruptive Kraft.
All diese Reaktionsweisen, die wir sowohl im Topmanagement als auch im mittleren Management beobachten, scheinen oft unabhängig von der tatsächlichen disruptiven Bedrohung oder den digitalen Chancen zu sein.
Einige Führungskräfte hingegen verstehen die Dynamiken und setzen sie bereits in strategischen Schritten um. Vielfach beginnt für sie damit ein Kampf gegen Windmühlen, wenn der eigene Vorstand oder die eigenen Direct Reports die "eindeutigen" Chancen oder mehr noch die existentiellen Bedrohungen nicht wahrnehmen. Auch andere Schlüsselspieler wie Digitalisierungs-Projektleiterinnen und -Projektleter oder Unternehmensentwicklerinnen und - entwickler sind ob der desinteressierten oder aggressiven Abwehrmechanismen oftmals perplex.
Warum können hier die Wahrnehmungen so weit auseinanderklaffen?
Dieses Phänomen lässt sich mit dem Begriff der Sensibilität beschreiben und zeigt in manchen Aspekten ähnliche Effekte wie die Auseinandersetzung zu Beginn der Internationalisierungsprozesse in Unternehmen.1 Menschen nehmen Ereignisse in ihrem Umfeld immer selektiv wahr, geben ihnen eine Bedeutung und konstruieren so die eigene Realität. Das ist nichts Neues. Diese menschliche Reaktionsweise wird spätestens dann zum Stolperstein, wenn es darum geht, hyper-aware (vgl. Neubauer / Tarling / Wade: Redefining Leadership for a Digital Age, 2017) zu sein und als Organisation responsiv die Herausforderungen der digitalen Transformation zu screenen. Sensibilität bedeutet hier Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit. Je fremder und emotionaler ein externes Phänomen ist, desto weniger kann sie vorausgesetzt werden und desto intensiver muss diese Sensibilität entwickelt werden, wenn Responsivität gefragt ist.
Nun ist die Auseinandersetzung mit der digitalen Transformation wesentlich emotionaler als mit anderen unternehmensbezogenen Veränderungsprozessen, denn sie wirkt nicht nur auf organisationaler sondern ebenso stark auf der persönlichen und gesellschaftlichen Ebene: Führungskräfte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeier bearbeiten bei diesem Thema die persönlichen Ängste und auch Hoffnungen mit. Dabei geht es nicht nur um den eigenen Arbeitsplatz, sondern auch um die persönliche Zukunft bzw. die der eigenen Familie und Kinder, ja der Gesellschaft insgesamt. Je bedrohlicher die digitale Zukunft vorausgedacht wird, desto stärker können ähnliche Reaktionsmuster wie in anderen schockierenden Veränderungen auftreten.
Durch dieses intensive Wirkungsfeld unterscheidet sich die Digitale Transformation wesentlich von anderen organisationalen Veränderungsvorhaben. Wir haben die häufigsten beobachtbaren Abwehrreaktionen darauf zusammengetragen, mögliche Unterstützungsmaßnahmen für das Management abgeleitet und begonnen, diese mit unseren Kunden zu testen. Die ersten Ergebnisse sind durchaus ermutigend.
Entwicklungsimpulse zur Steigerung der Sensibilität für die Digitale Transformation
Anhand von folgenden Wahrnehmungszuständen oder Sensibilitäts-Phasen lässt sich die Entwicklung eines Sensoriums für die Erfordernisse in der Digitalen Transformation beschreiben2 und in Folge steigern:
Verleugnen Führungskräfte zum Beispiel, dass die Digitale Transformation ihr Unternehmen je betreffen kann, so braucht es intensive Konfrontation ("Ja das wird kommen!") und Wake-Up Calls (z.B. durch Keynotes, Learning Expeditions etc.). Dies führt jedoch meist noch nicht zum Verstehen sondern zunächst zu einer abwehrenden Polarisierung, in der die Auswirkungen entweder dämonisiert ("das wird unser aller Arbeitsplätze kosten") oder extrem hochgelobt werden ("wir gehen einer besseren Zukunft entgegen") oder aber zu groß gemacht werden ("die anderen sind da schon Lichtjahre voraus").
Typischerweise bilden sich in der Organisation polarisierte Gruppen der "digitalen Frontstürmer" und der "rückwärtsgewandten Verweigerer". Sind Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter und Führungskräfte in solch einem Sensibilitäts-Mindset, müssen die handelnden Schlüsselspieler die vorhandenen Ängste durch emotionale Verarbeitungsmöglichkeiten reduzieren, Zuversicht fördern und die polarisierten Gruppen im Unternehmen in eine konstruktive Auseinandersetzung bringen. Gelingt dies, ist eine erste ernsthafte Beschäftigung mit der digitalen Transformation möglich. Das ist das Gute an dieser Phase: Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind auf dieser Sensibilitäts-Stufe bereit, die notwendigen Änderungen Schritt für Schritt mitzugehen.
In dieser angstfreieren Phase werden die disruptive Kraft und die Unterschiedlichkeit zum Status Quo jedoch meist kleingeredet, also minimiert ("Eh so wie immer", "unsere Tools reichen da völlig aus"). Das Minimieren wird in dieser Sensibilitäts-Phase somit zu einem Problem. Für Unternehmen, deren Branche bereits im Umbruch ist und für Führungskräfte und Schlüsselspieler reicht diese Sensibilitätsstufe daher nicht aus, um die konkreten Chancen und Bedrohungen zu screenen und darauf zu reagieren.
Um an diesem neuralgischen Punkt weiter voran zu kommen, gilt es, die eigene Hyper-awareness zu steigern und das Big Picture mit den Wirk-Stellhebeln für den eigenen Verantwortungsbereich zu verstehen. Hier erst entfalten auch agile Methoden, Agile Leaders Assessments ihre Kraft (die in den vorangegangenen Phasen meist durch polarisierende Abwehr unwirksam gemacht werden). Auch das vielfach geforderte Growth Mindset (vgl. Carol Dweck, 2006) benötigt solche angstfreien Sensibilitäts-Stufen und kann durch unterschiedlichste Maßnahmen des Neugier-Weckens positiv verstärkt werden.
Topmanagement und relevante Gestalter sollten jedoch noch einige Sensibilitäts-Phasen weiter gehen und konkretes Handeln sowie Mut und Tatkraft fördern. Ihre Aufgabe ist es, die digitalen Themen voranzutreiben, die Entscheidungskraft zu stärken, den Widerspruch zwischen dem Nutzen des Kerngeschäfts (Exploit-Modus) und dem notwendigen Innovieren & Experimentieren (Explore-Modus; vgl. z.B. O'Reilly & Tushman, 2016 ) auszubalancieren und letztlich digitale Strategien klug zu orchestrieren.
Mit diesem Sensibilitätsentwicklungs-Modell als Beobachtungsraster lassen sich geeignete unterstützende Aktivitäten für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter herausfinden: einerseits gezielt als Entwicklungsimpuls für die nächste Sensibilitäts-Phase und andererseits als Modell um bei größeren Teams mehrere Sensibilitäts-Mindsets gleichzeitig zu adressieren, um alle Teammitglieder zu erreichen.
Für mehr Information oder wenn Sie Ihren Verantwortungsbereich durch diese Modellbrille betrachten möchten wenden Sie sich gerne an Dr. Christiane Müller.
1 In der Internationalisierungsphase ging es um die Auseinandersetzung mit "Fremdheit" in Form von Interkulturalität, fremden Sprachen und globalisierten Prozessen. Es zeigte sich damals, dass manche Führungskräfte sehr sichtbare kulturelle Unterschiedlichkeit (wie z.B. in Indien oder Japan) nicht wahrnehmen konnten und damit auch nicht unterscheiden konnten, wie bzw. wann diese relevant wurde. vgl. Original: Bennett, M. 1993: Towards Ethnorelativism: A Developmental Model of Intercultural Sensitivity. In M. Paige (Ed.), Education for the Intercultural Experience. Yarmouth, Maine: Intercultural Press
2 Dieses Modell setzt sich zusammen aus Elementen des Developmental Model of Intercultural Sensitvity (DMIS, vgl Benett 1993) und der Soryline unseres Seminars "Being Digital".