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18. Juni 19

Selbstorganisation organisiert sich nicht von selbst

Der Diskurs über neues Arbeiten sowie agile und selbstgesteuerte Organisationsformen findet inzwischen fast überall statt - insbesondere dort, wo mehr Kundenorientierung, schnelle Entscheidungen und mehr Selbstverantwortung benötigt bzw. gewünscht werden.

In aller Regel wird zunächst im Kreis der Führungskräfte diskutiert: Man bemüht sich darum, die unterschiedlichen Konzepte zu verstehen und sucht gleichzeitig nach einem Modell, das schnell und erfolgreich auf die eigene Organisation übertragen werden kann. Früher oder später wird immer klar, dass es einen individuellen Ansatz benötigt und ein Vorgehen, das den spezifischen Bedarfen der eigenen Organisation gerecht wird.

Zu selten wird gleich zu Beginn die Frage geklärt, wofür mehr Selbstorganisation eigentlich eine Lösung sein soll und kann und wie dringend der Handlungsbedarf ist. Erst danach ist es sinnvoll, über das Ausmaß nachzudenken: Welcher Grad an Selbstorganisation ist für die aktuelle Situation in der Organisation sinnvoll? Geht es nur um einzelne Arbeitsfelder oder die ganze Organisation?

Die gesamte Organisation sollte in ihrer Komplexität berücksichtigt werden

Erst nach dieser grundsätzlichen Orientierungsphase wird es - bezogen auf das Wie immer konkreter: Wie sollen die Experimente aussehen, aus denen man gemeinsam etwas lernen möchte? Was ist tatsächlich umsetz- und zumutbar? Welche Rollen sind erforderlich und was ändert sich konkret für Führungskräfte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Wie wird der Reifegrad der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in dieser Hinsicht eingeschätzt? Wie sieht das vorherrschende Führungsverständnis aus?

All diese Fragen lassen sich meist nicht stimmig beantworten, ohne die gesamte Organisation in die Diskussion einzubeziehen. Es ist ein erster Schritt selbstorganisierten Arbeitens, der Komplexität einer Herausforderung mit einer angemessenen Komplexität des Handelns zu begegnen.

Wie gelingt das Einbeziehen der Organisationsmitglieder? Eine zentrale Herausforderung besteht darin, Grundprinzip und Konzept selbstorganisierter Teams und Arbeitsweisen verständlich und erlebbar zu machen.

Selbstverantwortliches Handeln ist die Voraussetzung für Selbstorganisation

Die Arbeitsweise von "wirklich" selbstbestimmten Teams lässt sich an drei charakteristischen Merkmalen festmachen (Quelle Wagemann):

  • Sie übernehmen persönliche Verantwortung für die Teamleistung.
  • Sie kontrollieren ihre eigene Arbeitsleistung und suchen immer nach einem Leistungsvergleich.
  • Sie verändern ihre Arbeitsstrategien nach Bedarf und entwickeln bei auftretenden Arbeitsproblemen geeignete Lösungen.

Das kann man darstellen. Anschaulich und eindrucksvoll lässt sich diese Arbeitsweise mit dem sogenannten "Ball Point Game" erleben. Dabei bilden alle Anwesenden gemeinsam eine "Ballmaschine", durch die eine große Menge kleiner Bälle unter Einhaltung einiger Regeln geschleust werden muss. Dabei wechseln sich Arbeitsphasen mit Planungsphasen ab.

Schnell wird deutlich, dass sich der Erfolg nur einstellt, wenn die Spielerinnen und Spieler sich gut abstimmen, sich an zusätzlich vereinbarte Regeln halten und zwischendurch gemeinsam konzentriert reflektieren, um Optimierungsstrategien testen zu können.

Außerdem wird erkennbar, dass jeder Einzelne seinen persönlichen Beitrag zum Erfolg leistet. Individuelles Handeln - und auch Nicht-Handeln - wirkt sich auf die Gesamt-Perfomance aus. Eine solche Erfahrung erzeugt starke Bilder und ein nachhaltiges Verständnis: Selbstverantwortliches Handeln ist eine notwendige Voraussetzung für Selbstorganisation.

Führungskräfte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben nicht die gleichen Vorstellungen von Selbstorganisation

Wenn Führungskräfte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemeinsam über Selbstorganisation nachdenken, werden unterschiedliche Motivationen und Hoffnungen sichtbar:

  • Führungskräfte erhoffen sich Entlastung dadurch, dass sie weniger in operative Fragestellungen involviert werden. Sie erwarten mehr Eigenverantwortung und Initiative der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und gehen davon aus, dass diese kreativer und effektiver agieren. Gleichzeitig verdichten sich Befürchtungen um die eigene und z. T. lang erarbeitete (Karriere-)Rolle.
  • Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zeigen sich meist aufgeschlossen: Viele finden es attraktiv, mehr Einfluss zu haben und sich an Entscheidungsprozessen beteiligen zu können, die bisher originär der Führung zugeordnet waren. Auch die stärkere Notwendigkeit zur Auseinandersetzung im Team wird meist mit der Hoffnung nach einer höheren Identifikation und mehr Wir-Gefühl verbunden. Zugleich werden Bedenken laut, ob man über genügend Ressourcen und Kompetenzen für dieses Modell verfügt. Dabei stechen zwei Punkte besonders hervor: Sorge um Mehrbelastung - also höherer nicht kompensierbarer Zeitaufwand - und das zu niedrige Entgelt - wenn man doch künftig auch höherwertige (Führungs-)Aufgaben übernimmt.

Beide Perspektiven sind nachvollziehbar. Und es wird deutlich, dass ein kontinuierlicher Austausch über die gegenseitigen Erwartungen unentbehrlich ist. Gute Erfahrungen machen Organisationen mit einem oszillierenden Prozess, bei dem beide Perspektiven abwechselnd verdeutlicht und sowohl Chancen als auch Risiken ernsthaft betrachtet werden.

Das Experimentieren mit Methoden fördert das Erfahrungslernen

Eine Annäherung an Selbstorganisation kann auch über das Erproben von Tools aus dem "Sortiment" agiler Methoden oder Selbstorganisation unterstützender Arbeitsweisen erfolgen: Zwischen Führungskraft und Team werden zeitlich befristete Experimente verabredet. Sie ermöglichen eine praktische Erfahrung mit neuen Mustern und lassen erleben, wie sich ein verändertes Vorgehen auf die Kooperation auswirkt.

Ein echter Effekt stellt sich allerdings nur ein, wenn es regelmäßige Reflexionsschleifen gibt - zu Wirkung, Nutzen und Nebenwirkungen. Erst so wird das unmittelbare Erleben zu einer abrufbaren Erfahrung und macht Führungskräfte und Teams entscheidungsfähiger. Und auch hier stellt sich gleich wieder die Frage nach dem Ausmaß der Selbstorganisation: Wird dieser Lernprozess von Führung strukturiert und gesteuert oder setzt man auch übergreifend auf die Kraft der Selbstorganisation?

  • Besonders mit dem Ausprobieren alternativer Entscheidungsverfahren machen viele Unternehmen gute Erfahrungen: Einigungen erfolgen z.B. mit Hilfe von "Konsent". Oder jemand wird beauftragt, einen "konsultativen Einzelentscheid" zu treffen. Mit Hilfe von "Delegation Poker" kann der gewünschte bzw. für erforderlich gehaltene Delegationsgrad diskutiert werden.
  • Hilfreich sind auch einfache praktische Tools, die bei der Strukturierung von Arbeit unterstützen wie Kanban-Board oder Stand-up-Meeting. Ebenfalls erfolgsversprechend sind Formate, die den Austausch systematisieren - wie z.B. Retrospektiven.
  • Da Teamerfolg auf einer gut funktionierenden Zusammenarbeit basiert, ist die Fähigkeit zur konstruktiven Rückmeldung von zentraler Bedeutung. Häufig sind allerdings Bereitschaft und Fähigkeit zu kollegialem Feedback noch sehr unterentwickelt, weil insbesondere kritische Rückmeldungen an Kolleginnen und Kollegen gerne der Führungskraft überlassen wurden. Selbstorganisation erfordert allerdings durch das Ringen um die beste Lösung einen gewissen kritischen Widerspruchsgeist und Konfliktbereitschaft. Als hilfreiche Unterstützung auf diesem Wege haben sich unterschiedliche Formen des Peer-Feedbacks erwiesen. Sie gewähren kleinräumig Übungsmöglichkeiten für wertschätzende und kritische Rückmeldungen. Ein niedrigschwelliger Einstieg wäre, dass eine Person sich selbst aussuchen kann, wer ihr Feedback geben soll.
  • Auch der team-übergreifende oder sogar organisationsweite Austausch über die Erfahrungen mit verabredeten Experimenten ist eine gute Möglichkeit, mehr Selbstorganisation zu praktizieren: Er kann z.B. von gewählten Mitgliedern der Teams organisiert werden - und nicht mehr (wie meist üblich) von Führungskräften. So steht auch hier das gemeinsame Lernen im Fokus.

Selbstorganisation organisiert sich nicht von selbst ...

Herausfordernd wird es insbesondere dann, wenn Selbstorganisation in einer sehr hierarchiegeübten Organisation zu einem grundlegenden Organisationsprinzip avancieren soll - zumindest in Teilbereichen. Dann sind gezielte "Anstrengungen" erforderlich, um den Beharrungskräften etwas entgegenzusetzen und neue Erfahrungen zu ermöglichen. Der Raum dafür muss in hierarchisch geprägten Organisationen von Führung geschaffen und zunächst auch mitgestaltet werden. Dabei ist eine gute Balance wichtig: Zielorientierte Selbstorganisation ist weder auf Knopfdruck zu erzeugen noch stellt sie sich durch Laissez-faire von selbst ein.

Führung braucht viel Mut, Experimentierfreude, einen langen Atem und die Bereitschaft sich bzw. das eigene Handeln immer wieder in Frage zu stellen. Und was fällt Führungskräften nach unserer Erfahrung am schwersten? Das Loslassen!

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