19. September 22
Soziale Distanz - entscheidende Gestaltungsaufgabe virtueller Führung!
Bei virtuellen Arbeitsformen spielt das Distanzempfinden eine große Rolle. In unserem Blogpost haben wir 3 Dimensionen beschrieben, die Distanz zwischen Personen beschreiben, die überwiegend virtuell zusammenarbeiten: physische, organisatorische und soziale Distanz. Die These lautet hier, dass die Qualität der Zusammenarbeit mit zunehmender Distanz abnimmt bzw. umgekehrt, dass es einen bestimmten Grad von individuell empfundener Nähe geben muss, damit erfolgreich zusammengearbeitet werden kann.
Während die physische Entfernung der Faktor ist, der allgemein schnell für Produktivitätseinbußen verantwortlich gemacht wird, spielt er in den empirischen Ergebnissen zum Teamerfolg von verteilt arbeitenden Teams die geringste Rolle! Das entspricht auch dem praktischen Erleben vieler Menschen: Man kann sich von Kolleg*innen sehr entfernt fühlen, obwohl sie räumlich nur wenige Meter entfernt sitzen und man ständig per Mail kommuniziert. Und ebenso kann man sich Personen sehr nahe fühlen und eng und vertrauensvoll mit ihnen online zusammenarbeiten, obwohl sie sich räumlich weit entfernt aufhalten.
Der entscheidende Faktor in der verteilten und virtuellen Zusammenarbeit in Teams ist die soziale Distanz. Hier geht es um geteilte Werte, Vertrautheit aus früheren Arbeitskontexten, Umgang mit Hierarchie oder die gegenseitige Abhängigkeit vom gemeinsamen Teamziel. Ist die empfundene soziale Distanz in diesen Punkten groß, sinkt die Teameffektivität. Wenn die soziale Distanz dagegen gering ist, wirkt dies kompensierend auf andere Distanzfaktoren. Insbesondere die physische Entfernung zwischen Teammitgliedern ist dann weniger relevant, wie empirische Ergebnisse zeigen.
Entscheidend ist also nicht, von welchen Orten aus zusammengearbeitet wird, sondern, ob es in der Art der Zusammenarbeit – ob Face-to-face, hybrid oder rein virtuell - gelingt, die erlebte Distanz nicht zu groß werden zu lassen. Positiv formuliert: Gelingt es, die erforderliche Nähe zwischen den Beteiligten herzustellen und zu halten?
Was heißt das für Führung in diesem oft auch mit dem Schlagwort "New Work" belegten Arbeitskontext? Ihre Aufgabe ist es, neue Kooperationsformate entschieden zu nutzen, geeignete Begegnungsräume zu schaffen, Arbeitsprozesse bruchlos in der Virtualität zu gestalten und – als eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung - eine möglichst stabile technische Infrastruktur sicherzustellen.
Wie das genau aussieht, lässt sich nicht in ein paar einfachen Handlungsanweisungen formulieren, die uns manchmal als "Tipps zur erfolgreichen Homeoffice Arbeit" angeboten werden. Diese Verheißung direkt wirksamen Handelns erfüllt sich nicht, denn viele Entwicklungen der immer schnelleren Transformation der Arbeit bleiben unabsehbar. Wachsende Unberechenbarkeit des je eigenen Verantwortungsbereichs und unterschiedlichen Zustände der Transformation des relevanten Umfelds lassen auf absehbare Zeit keine bessere Orientierung in der Veränderung erwarten.
Der schottische Ethnologe Victor Turner hat im Zusammenhang mit seinen Studien von Naturvölkern den Begriff der Liminalität geprägt. Das Wort bezeichnet eine Phase und einen Raum des Übergangs zwischen dem, was war und dem, was sein wird. Im liminalen Raum entsteht etwas Neues, dessen nächste Gestalt aber noch unklar ist. Wenn man dieses Phänomen auf die heutige Diskussion der Gestaltung der Arbeit überträgt, könnte man sagen: Wir diskutieren über Erscheinungen in diesem Zwischenstadium, wir nennen sie Homeoffice, oder hybrid oder New Work, in der Hoffnung, damit ausreichend einen neuen Endzustand zu beschreiben. Wie Andrea Schmitz in ihrem Artikel "Die Zukunft der Arbeit ist nicht hybrid" (Changement! 5 /2022) allerdings so treffend ausführt, ist die jetzige Phase eben vor allem gekennzeichnet durch Unbekanntes, Unklares, Nichtwissen und eigene Unsicherheit. Die derzeitige Hoffnung, wir hätten (bald) einen Zielzustand erreicht, erfüllt sich nicht. Umfragen bei unterschiedlichsten Organisationen zeigen ein großes Spektrum und auch gegenläufige Trends zwischen remote only, hybriden Lösungen der Büroraumverkleinerungen, Umgestaltungen, Einrichtungen von Hubs und Coworking Spaces bis zu (u.E. unrealistischen) Bewegungen ins "Old Normal".
Von Führung ist jedoch auch in dieser Vorläufigkeit und Unbestimmtheit Handeln und Entscheiden gefordert. Handeln im Übergang orientiert sich dann zwischen Neuorientierung und "Entlernen" von vertrauten Führungsmustern, ein auch für Führungskräfte anstrengender, oft schmerzhafter Prozess:
Sich aktiv von bisherigen Überzeugungen und Erfahrungen verabschieden, wie Arbeit am besten zu funktionieren hat und sicherheitsstiftende Normen wie Ortsgebundenheit der Arbeitsleistung und Führen über Anwesenheitskontrolle aufgeben.
Offensiv in der Teamführung vertreten, dass sich bisher vertraute, "ewige" Regeln auflösen. Selbstverständlichkeiten haben oft Konfliktpotenziale reduziert, jetzt entstehen mehr Aushandlungsbereiche, der kontinuierliche Steuerungsaufwand wird größer.
Man könnte es als eine Variante der oft zitierten Beidhändigkeit beschreiben. Mit der Führung einen schwierigen Balanceakt leistet. Denn einerseits gilt es, die "vorläufigen" Regeln verbindlich zu halten und im "Hier und Jetzt" durchzusetzen, andererseits genau diese Regeln regelmäßig im Team auf den Prüfstand zu stellen, zu verändern und anzupassen. Verbindlichkeit in der Vorläufigkeit ist das Führungsbild.
Akzeptieren, dass die (Kollaborations-) Technologie eine eigene Größe in diesem Spiel ist. Die zentrale Aufgabe von Führung, Kommunikation zu organisieren, wird um die Interaktion mit und durch Technik, also mit Objekten und nicht nur mit Personen / mit Subjekten qualitativ erweitert.
Führung und die Teams erobern sich ein weiteres Feld an Kompetenzen für den Umgang mit Plattformen und Tools, brauchen ständiges Lernen und Anpassung durch den Druck technischer Neuerungen.
Das Team wie ein virtuelles Team organisieren, auch wenn es nicht ständig virtuell zusammenarbeitet. Die Organisation und die Führungsrollen darin stellen Transparenz der Information für alle sicher, gestalten synchrone und asynchrone Arbeitsprozesse, sorgen für verteilte Führungsrollen und eine Kommunikationsstruktur, die immer weniger abhängig von persönlichen Begegnungen ist.
Kommunikationsmuster, Werte, Motivatoren der unterschiedlichen Generationen im Team berücksichtigen, von den scheidenden “Baby Boomers” bis zu den “Alphas”, die in 2-3 Jahren als Azubis in die Organisationen treten. Führung stellt sich auf die durch Social-Media-Einflüsse geänderten Kommunikationspräferenzen ein. Sie nutzt die darin möglichen anderen Methoden des Vertrauensaufbaus und Umgangs mit Hierarchie für die zielgerichtete Zusammenarbeit.
Führung geht die Auswirkungen der neuen Unsicherheit und ihre Einflüsse auf die Zusammenarbeit im Team offensiv an, sucht im und mit dem Team einen gemeinsamen Umgang damit. Gesellschaftliche Entwicklungen wie Pandemien, Klima, psychische Gesundheit haben eine noch nicht gekannte, wenn auch eher mittelbare Wirkung auf den "Mikrokosmos" der geführten Teams. Auch dazu öffnet Führung die teaminterne Kommunikation.
In diesen Hinweisen appellieren wir wiederkehrend an "Führung". Wir wollen aber nicht das Bild bedienen, Führungskräften bei neuen Herausforderungen immer weitere Aufgaben (und damit Verantwortlichkeiten) zuzuschreiben. Deshalb unterscheiden wir zwischen "Führung" als von verschiedenen Teammitgliedern wahrzunehmende Dienstleistung für das Team, bzw. der Führungskraft als einem Rollenträger im Team. Führung strukturiert das Tagesgeschäft der Organisationseinheit, bewältigt Auswirkungen der Pandemie im Geschäftsablauf mit Kunden und Lieferanten, organisiert das Homeoffice und hybride Arbeitssituationen, achtet auf die Einhaltung betrieblicher Regelungen und die Zufriedenheit der Teammitglieder. Die Vielfalt der Aufgaben führt zu Überforderung, wenn sie nicht von mehreren Schultern getragen wird. Deshalb sehen wir hier neben der designierten Führungskraft, der Verantwortungsgemeinschaft der Teammitglieder auch Aufgaben bei Querschnittsfunktionen, der Führungskräfte- und Organisationsentwicklung sowie die IT: Hilfestellung zu leisten in der Verbindung von Mind-set, Skill-set und Tool-set.
Hierzu reicht das Angebot klassischer Formate der betrieblichen Weiterbildung nicht aus, das vordefiniertes Wissen vermitteln und verankern soll.
Aber von der Liminalität, dem unklaren und von Übergang geprägten Raum sind auch Querschnittsfunktionen wie Human Resources und Organizational Development betroffen. Auf dem Weg zur neuen Arbeit(sgestaltung) können auch sie die eindeutig schließende Bewegung der Wissensvermittlungs- und Transformationslogik nicht leisten. Entlernen von Überzeugungen, neue Wege der Organisation verteilter Teams und experimentierfreudige Offenheit für ungewohnte Tools sind zentrale Herausforderungen dieses Übergangs. Intensivere Formen der Zusammenarbeit zwischen den Führungskräften und den Querschnittsfunktionen sind erforderlich, soll die Handlungsfähigkeit der Teams im Übergang gestärkt werden.
Auch für die Zentralfunktionen kann man dementsprechend Leitplanken formulieren, um in dem vorläufig und gleichzeitig entschieden zu gestaltenden Übergangsraum zu handeln. In ihrer speziellen Verantwortung, Kontexte zu schaffen stellen Querschnittsfunktionen den Teams technische und organisatorische Gefäße zur Verfügung, die die Kooperations- und Entscheidungsfähigkeit der Führungskräfte und Arbeitsteams in dem Übergang stärken. Communities werden gebildet durch physische und virtuelle Räume für Begegnungen. Handlungsfähigkeit wird gestärkt durch Austausch und Teilen von Wissen. Das subjektive Sicherheitsempfinden (im Sinne von Psychological Safety) als Voraussetzung für verstärkte Verantwortungsbereitschaft wird unterstützt. HR-Expert*innen stellen kuratierte Lernformate aus externen und internen Quellen zur Verfügung, OD-Expert*innen ermöglichen in den Organisationen sichere und erfolgsrelevante Resonanzräume, in denen mit neuen Arbeitsformaten und Rollenaufteilungen experimentiert werden kann.
Zielgerichtetes, wirksames Handeln braucht in der andauernden Vorläufigkeit weitaus mehr Gemeinschaftsleistung als in stabilen Rahmenbedingungen. Wo für eindeutige Antworten die berechenbaren Räume fehlen, wird Entscheidungsfähigkeit im Team immer abhängiger vom abgestimmten Handeln zwischen Führung, Team und Querschnittsfunktionen. Das braucht die Bereitschaft und Fähigkeit der Organisation, die aus der Virtualisierung weiter wachsenden Risiken sozialer Distanzierung zu bearbeiten und diese möglichst zu verringern.