26. Juli 22
Teamentwicklung für ein Education Start-up: Alles dreht sich um Kollaboration
Der Gründer eines Education Start-up, das innovative Lern- und Lehrprogramme für Critical Thinking entwickelt, sucht eine Beratung für eine virtuelle Teamentwicklung. Das Team bestehend aus Lehrer*innen, Wissenschaftler*innen und IT-Expert*innen arbeitet fast ausschließlich verteilt und virtuell. Welche Form der Zusammenarbeit und Führung passt zu einer Organisation, deren Mission es ist, Menschen in ihrer Fähigkeit zu kritischem Denken zu stärken? Wie sollte man sich intern organisieren, wenn Critical Thinking das Produkt ist?
Klassische hierarchiegestützte Steuerungsmechanismen gewinnen ihren Mehrwert gerade aus dem Verzicht auf Hinterfragen und Konsens bei den Empfänger*innen. Im Gegenzug erhält man eine eindeutige Arbeitsteilung, bei der die höheren Ebenen entscheiden und verantworten und die jeweils darunterliegenden Ebenen ausführen und nur Sorge tragen für eine ordentliche Umsetzung, nicht aber die Richtigkeit der Entscheidung. Das kann ein sehr effizienter Entscheidungsmechanismus sein, besonders in überschaubaren und stabilen Umwelten. An ihre Grenzen kommt Hierarchie, wenn die Komplexität und Unsicherheit im Entscheidungsprozess zunimmt. Diese Erfahrung machen zahlreiche Organisationen im Kontext der digitalen Transformation.
Collaborative Leadership und 4C Konzept: Führen im digitalen Zeitalter
Katrin Glatzel und Tania Lieckweg, Partnerinnen der osb Berlin, haben mit Collaborative Leadership und dem 4C Konzept ein Steuerungsmodell für das digitale Zeitalter entwickelt. Für die Bewältigung der oft höchst disruptiven Auswirkungen der Digitalisierung sind Führungskräfte gefordert, die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der eigenen Organisation auf ein möglichst breites Fundament zu stellen. Das gelingt durch mehr Einbeziehung und mehr Aushandlung, also mehr Kollaboration. Je unbekannter die Zukunft, desto riskanter ist es, sich auf das Wissen und Urteilsvermögen einiger weniger zu verlassen.
Kollaborative Führung als Antwort auf Komplexität und Unsicherheit
In der kollaborativen Führung geht es um die Aktivierung und Ermächtigung aller Organisationsmitglieder. Durch die Vielfalt von Perspektiven und das gemeinsame Ringen um die beste Lösung entstehen Innovationen. Aber durch erhöhte Kollaboration verschwinden auch Sicherheiten. Arbeits- und Entscheidungsprozesse werden komplexer. In seinem Buch "Design for a Brain" beschreibt der Biologe und Kybernetiker W. Ross Ashby: "Only variety can absorb variety." Dieses Prinzip – Ashby‘s Law of Requisite Variety – besagt: Wenn die Komplexität in der Umwelt eines Systems steigt, muss das System auch seine eigene Komplexität erhöhen, um antwortfähig zu bleiben. Im Kontext von Organisationen sprechen wir von Zukunftsfähigkeit.
Critical Thinking und Teamwork sind Kernkompetenzen in der digitalen Wissensökonomie
In der Konsequenz bedeutet Collaborative Leadership auch, dass alle Organisationsmitglieder, nicht nur die Führungskräfte, sich auf Neues einlassen und lernen müssen. Aus individueller Führungsverantwortung wird geteilte Verantwortung. Das gilt auch für die Verantwortung für das eigene Lernen. Der Erziehungswissenschaftler Florian Feucht argumentiert noch grundsätzlicher: "Everybody needs to be able to think" und zeigt auf, dass kritisches Denken und Teamfähigkeit Hand in Hand gehen. Er verweist auf eine Studie von Gokhale aus dem Jahr 1995, die zu dem Ergebnis kommt, dass kollaboratives Lernen das kritische Denken mehr fördert als individuelles Lernen. Auch in der Arbeitswelt, so sein Hinweis, werden Critical Thinking/Problem Solving und Teamwork/Collaboration als Kernkompetenzen gesehen (siehe zum Beispiel Job Outlook 2018 Survey der National Association of Colleges and Employers ). Es gilt also gleichermaßen "Everybody needs to be able to collaborate."
Teamentwicklung mit 4C Konzept: Communication, Creativity, Consent, Contribution
Auf Basis des 4C Konzepts entwerfen wir einen Teamentwicklungsprozess, der im Kern aus vier Sessions besteht, die sich jeweils um eine der Dimensionen des 4C Konzeptes drehen. Die Sessions kombinieren inhaltliche Impulse und Diskussion mit Reflexion und Tool-Anwendungen bezogen auf die konkrete Situation des Teams.
Abbildung 1: 4C Konzept
Communication: Zum Start beschäftigen wir uns mit Kommunikation, der Grundlage für jede gute Zusammenarbeit. Wir üben uns im radikalen Kommunizieren und Zuhören und reflektieren unsere Kommunikation im Team. Wie sehen die aktuellen Kommunikationsstrukturen aus? Welche Tools nutzen wir, besonders in der virtuellen Zusammenarbeit? Wie gelingt es uns, dass jedes einzelne Teammitglied sichtbar wird und aktiv an der Teamkommunikation teilnimmt? Wie stellen wir sicher, dass wir in einem guten Austausch bleiben? Welche Qualität haben unsere Beziehungen untereinander und was tun wir dafür?
Creativity: Um das Wissen Vieler zusammenzubringen, braucht es eine Kultur, die Vertrauen, Kreativität und Feedback fördert. Kreativität wird hier nicht nur als individuelle Fähigkeit, sondern vor allem auch als kollektive Aufgabe verstanden. Wir lernen verschiedene Kreativitäts- und Feedbackmethoden kennen. Wodurch lassen wir uns inspirieren? Wie organisieren wir den Austausch von Ideen im Team? Wie experimentierfreudig sind wir und wie gehen wir mit Fehlern um?
Consent: Erhöhte Partizipation bedeutet auch, dass Teams lernen müssen, Spannungen auszuhalten. Arbeitsprozesse müssen so gestaltet werden, dass ehrlicher und ergebnisoffener Austausch möglich und gleichzeitig sichergestellt ist, dass man gemeinsam zu Ergebnissen kommt. Dabei hilft es, verschiedene Entscheidungsprinzipien und -methoden zu kennen und das Repertoire um partizipative Varianten zu erweitern. Wie treffen wir im Team Entscheidungen? Wie gehen wir mit differierenden Meinungen um?
Contribution: Bei Contribution geht es darum, den übergeordneten Zweck des Unternehmens, den Purpose, mit dem Beitrag, den jedes einzelne Teammitglied erbringen kann und möchte, zu verknüpfen. Produktive Kollaboration braucht eine gemeinsame Ausrichtung auf der kollektiven und der individuellen Ebene. Wofür gibt es unsere Organisation und was ist unsere Vision? Was ist mein Beitrag zum großen Ganzen? Wie passt das zu meinen persönlichen Überzeugungen und Kompetenzen?
Kollaboratives Arbeiten mit einem hohen Maß an Selbstverantwortung braucht einen klaren Rahmen. Die Auseinandersetzung mit den Dimensionen des 4C Konzeptes unterstützt das Team, die Faktoren für das Gelingen ihrer Zusammenarbeit zu reflektieren und zielgerichtet zu gestalten. Die gemeinsame Gestaltung des Rahmens ist eine kontinuierliche Aufgabe und erfordert Einsatz- und Lernbereitschaft von allen. Zusammen geht mehr, wenn man das Zusammenkommen ernst nimmt.
Unsere Ausgangsfrage war: Wie sollte man sich intern organisieren, wenn Critical Thinking das Produkt ist? Im hierarchischen Steuerungsmodell ist kritisches Hinterfragen von nachgelagerten Ebenen ein Störfaktor. Im 4C Konzept ist es nicht nur erlaubt, sondern gewünscht. Nur so kommt es zu einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe, die das gesamte Potenzial des Teams nutzen kann.
Literaturhinweise
Ashby, W. R. (1952): Design for a Brain: The Origin of Adaptive Behavior
Feucht, F. (2016, July 31): Why Critical Thinking and Teamwork Matter the Most or: Skills that you need and employers want!
Freeman, T. (2001, Jun 2001): Critical Thinking, Communications, And Teamwork
Glatzel, K. & Lieckweg, T. (2022, 2. Auflage): Collaborative Leadership. Haufe Lexware GmbH
Gokhale, A. A. (1995): Collaborative learning enhances critical thinking. Journal of Technology Education, 7(1)
National Association of Colleges and Employers (2017, December 11). Employers Rate Career Competencies, New Hire Proficiency