29. Oktober 24
"Wir drehen uns hier gerade nur noch im Kreis" - Das Wissen um Gruppendynamik gewinnt neu an Bedeutung
Ein zweitägiger Workshop der Geschäftsführung eines mittelständischen Unternehmens: Bisher gehörten zwei Männer der Unternehmensleitung an. Vor einem Vierteljahr ist eine Frau hinzugekommen. Im Workshop wollen die drei Führungskräfte die ersten Monate ihrer Zusammenarbeit reflektieren. Sie starten mit der Frage, wie ihre Zuständigkeiten geschärft werden sollten.
Als Moderatorin schlage ich ein ungewöhnliches Format vor: Die Geschäftsführung soll sich zunächst unmoderiert austauschen. Ich möchte beobachten, WIE die drei nach Lösungen suchen. Gelingt es ihnen, sich über unterschiedliche Interessenlagen respektvoll und gleichzeitig zielorientiert zu unterhalten? Oder verhaken sie sich im Gespräch miteinander? – Wir vereinbaren, nach ca. 30 Minuten zu unterbrechen, um gemeinsam von einer Metaebene auf den bisherigen Gesprächsverlauf zu schauen: WAS ist bisher inhaltlich erreicht? Und WIE ist das Führungsteam dabei vorgegangen? Zu Beginn des vereinbarten Zwischenstopps sagt einer der beiden Männer spontan: "Wir drehen uns hier gerade nur noch im Kreis."
Die Kenntnis moderner Entscheidungsverfahren reicht nicht aus
Im Zuge des Hypes um Agilität haben viele Unternehmen ihr Wissen um effektive Methoden der Gesprächsführung erweitert. Nicht nur in agilen, sondern auch in hierarchischen Teams werden moderne Entscheidungsverfahren wie Delegation-Poker oder Konsent-Entscheidungen genutzt. Ratgeber zum Thema Agilität versprechen, der konsequente Einsatz dieser Methoden mache Zusammenarbeit spürbar effektiver. In der Realität "menschelt" es allerdings nach wie vor: Gespräche gleiten ab in Polarisierungen, laute Teammitglieder setzen sich gegenüber leisen durch. In der Praxis zeigt sich, allein mit Methodenwissen sind solche gruppendynamischen Momente nicht zu bewältigen.
Das Wissen um Gruppendynamik gewinnt neu an Bedeutung
Trainings zu Gruppendynamik werden seit Jahrzehnten angeboten. Sie ermöglichen es Führungskräften, ihre Wirkung auf Dritte unmittelbar zu erleben und gleichzeitig zu reflektieren. Parallel dazu sensibilisieren sie für (Macht-)Dynamiken, die sich in Gruppen oder Teams entfalten. Teilnehmende beschreiben dieses Training oft als außerordentlich intensiv und nachhaltig. Aber das klassische Gruppendynamik-Training dauert 5–6 Tage – ein schwerer (Trainings-)Tanker inmitten einer Lernlandschaft, die aktuell von kleinen Schnellbooten dominiert wird – kurzen Impulsen, Online-Modulen und max. zweitägigen Präsenztrainings. Die Frage ist also: Wie kann gruppendynamisches Know-how im Arbeitsalltag von (Führungs-)Teams trainiert und nutzbar gemacht werden?
Gruppendynamik wird im Workshop erlebbar
Zurück zum Workshop der Geschäftsführung: Um vom inhaltlichen Austausch über Zuständigkeiten auf die Metaebene zu wechseln, stelle ich drei Fragen: "Auf einer Skala zwischen 0–100 % – wie zufrieden sind Sie mit dem bisher erreichten inhaltlichen Ergebnis, mit dem Gesprächsprozess und mit Ihrem eigenen Beitrag zum Gespräch?"
Die Antworten fallen unterschiedlich aus. Keine Bewertung übersteigt 70 %. Wir wollen die Hintergründe erforschen: "Ich kann machen, was ich will – du weichst mir aus", sagt der eine Mann. "Du redest und redest, ich komm da gar nicht rein", erwidert der andere. Die Frau ergänzt selbstkritisch, sie habe sich bisher allzu sehr herausgehalten.
Der systemische Ansatz macht handlungsfähig
Diese ersten Eindrücke sind typisch: Wir blicken oft zuerst auf unser Gegenüber und benennen, was wir an ihm oder ihr als schwierig erleben. Der andere "ist schuld".
Eine alternative Perspektive bietet der systemische Ansatz. Dieser legt den Fokus auf die Dynamiken zwischen den Beteiligten. Der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick empfiehlt, sich selbst zu fragen:
"Wie trage ich (bisher unbewusst) dazu bei, dass mein Gegenüber sich auf eine Weise verhält, die ich nicht mag?"1
Im ersten Moment mag man diese Frage ablehnen und denken: "Nicht ich bin schuld daran, dass wir uns hier gerade verhaken." Doch die systemische Perspektive fragt nicht nach Ursache und Wirkung oder möglichen Schuldigen. Stattdessen ermöglicht die empfohlene Frage nach dem eigenen Beitrag zum Geschehen Einfluss auf die künftige Gesprächsdynamik zu nehmen: "Wie könnte ich mein eigenes Verhalten ändern, damit unsere Gespräche konstruktiver werden?"
Die Geschäftsleitung erkennt eine zentrale Gesprächsdynamik
Im Workshop versuchen wir, die entstandene Konfliktdynamik zu beschreiben. Es entsteht folgendes Bild von zentral beteiligten Persönlichkeitsaspekten der beiden Geschäftsführer:
A hat den Eindruck, B nicht zu erreichen. Er erlebt die Reaktionen von B als "Nebel". Gleichzeitig hat A den Anspruch, zu einem Ergebnis zu kommen. A wird zunehmend unruhig und bringt einen Lösungsvorschlag nach dem anderen ein. Dies erlebt B als ein "auf ihn einprasselndes Gewitter", das bei ihm ein Gefühl der Bedrohung auslöst. Um sich Zeit zu verschaffen, bleibt B in seinen Antworten extrem vage. Dies wiederum erlebt A als Nebel. Die Dynamik setzt sich fort und eskaliert.
Der Praxistransfer gelingt unmittelbar und kann nachhaltig sein
Das Veranschaulichen der bisher unbewussten Gesprächsdynamik führt zu einem neuen Verständnis füreinander. Die beiden Geschäftsführer nehmen wahr, was sie beim Gegenüber auslösen und wie sie durch ihre bisherigen Lösungsansätze unbewusst selbst dazu beitragen, dass sie sich "gerade nur noch im Kreis drehen".
Der Metablick auf die Gesprächsdynamik dauert im Workshop nur eine halbe Stunde, zeigt aber große Wirkung. Der Austausch verläuft danach spürbar entspannter. Als wir weitere Themen bearbeiten, kommt von dem einen oder anderen gelegentlich der Hinweis, dass man gerade wieder in die bisherige Dynamik "hineinrutsche".
Der Workshop endet mit konkreten Vereinbarungen zu Zuständigkeiten sowie zu Entscheidungs- und Meeting-Strukturen. Darüber hinaus einigt sich die Geschäftsführung darauf, am Ende künftiger Sitzungen kurz zu reflektieren, WIE die inhaltlichen Ergebnisse zustande gekommen sind. Und falls dies nicht durchgängig konstruktiv gelungen ist: Worauf wollen sie in der nächsten Runde bewusster achten?
Fazit: Es braucht beides – methodisches Wissen und gruppendynamische Kompetenz
Jedes (Führungs-)Team sollte in der Lage sein, in überschaubarer Zeit zu tragfähigen Entscheidungen zu kommen. Dafür reicht nicht allein die Kenntnis geeigneter Gesprächs- und Entscheidungsmethoden. Erforderlich sind darüber hinaus gruppendynamische Kompetenzen. Ein Workshop zur Zusammenarbeit kann dafür einen praxisnahen Einstieg bieten. Dabei ist es die Aufgabe der Moderation, dafür zu sorgen, dass sich die Teammitglieder – anders als in der Hektik des Arbeitsalltages oft beobachtbar – nicht ausschließlich auf operative Fragen konzentrieren. Das zwischenzeitliche Innehalten, verbunden mit der Frage "WIE haben wir gerade miteinander diskutiert?" kann nachhaltig für gruppendynamische Prozesse sensibilisieren, die trotz modernster Gesprächsmethoden auch weiterhin Teil von Zusammenarbeit sein werden.
1 Paul Watzlawick u.a.: Lösungen – zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels