17. Oktober 23
Wir führen uns selbst – Ein PE-Team geht in Selbstorganisation
"Mitverantwortung stärken" – eine (Heraus-)Forderung, der sich viele Unternehmen aktuell auf neue Weise stellen. Die möglichen Vorteile liegen auf der Hand: Wenn Mitarbeitende einbezogen werden, erhöht sich ihre Motivation. Wenn viele mitdenken, werden Entscheidungen im Kontext von hoher Komplexität (hoffentlich) tragfähiger. Allerdings: Nicht jede Entscheidung kann so lange diskutiert werden, bis wirklich alle zu 100 Prozent mitgehen. Die Arbeitsfähigkeit muss trotzdem jederzeit sichergestellt sein. Dafür trägt Führung die Verantwortung.
Ein besonders hohes Maß an Mitverantwortung ist da gefordert, wo Führung nicht mehr an eine einzelne Person gebunden ist, sondern Führungsrollen bzw. -aufgaben an Mitarbeitende delegiert werden. Im Ergebnis entstehen selbstorganisierte Teams. Das Etablieren von Selbstorganisation stellt Beteiligte vor nicht zu unterschätzende Anforderungen. Anhand eines Praxisfalls möchte ich einige davon beschreiben.
Organisational abgestimmtes "New Work-Experiment": Das PE-Team soll selbstorganisiert arbeiten
Das Personalentwicklungsteam spricht mich zu einem Zeitpunkt an, als bereits seit längerem klar ist, dass die Leiterin der Abteilung das Unternehmen in sechs Monaten verlassen wird. Ihre Position soll nicht nachbesetzt werden. Dabei handelt es sich um ein mit dem Vorstand abgestimmtes Projekt im Rahmen der generellen Leitlinie, New Work im Unternehmen zu stärken. Das PE-Team möchte beispielhaft vorangehen, um in Zukunft andere Teams auf ihren eigenen Wegen in Richtung New Work überzeugender unterstützen zu können.
Als wir uns kennenlernen, hat das Team bereits viel Vorarbeit geleistet: Ein gemeinsames Bild für die künftige Zusammenarbeit ist entstanden und persönliche Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche für das Projekt „Selbstorganisation“ sind formuliert. Die Vorfreude ist groß.
1. Workshop: Führungsrollen sollen definiert und verteilt werden
Wir wollen an die geleistete Vorarbeit anknüpfen und schnell ins Arbeiten kommen. Die Abteilungsleiterin hat ihre bisherigen Aufgaben aufgelistet, Zeitaufwände markiert und Prioritäten gesetzt. Sie unterbreitet einen Vorschlag dazu, welche Führungsaufgaben künftig im Team geleistet werden können und was an die übergeordnete Bereichsleiterin übergeben werden soll. Verständnisfragen werden geklärt, die von der Abteilungsleiterin vorgeschlagene Bündelung in einzelne Rollen scheint überzeugend zu sein. Wir kommen zügig voran.
Dann wollen wir exemplarisch eine erste Rolle mit Hilfe der Methode "Aus der Mitte wählen" besetzen: Wer Lust auf die Rolle des "Seismographen" hat – eine Rolle, die vor allem für das Klima der Zusammenarbeit im Team zuständig sein soll – kann sich zur Wahl stellen. Plötzlich entsteht eine spürbare Unruhe in der Gruppe.
In der Auswertung des ersten Workshops wird deutlich, dass das in der Vorarbeit des Teams entstandene "Wir" noch nicht ausreichend belastbar ist. Einige "blinde Flecken" haben sich eingeschlichen, die auf typische Missverständnisse bezüglich selbstorganisierter Teams hinweisen. Ein solches typisches Missverständnis ist: "Alle sind gleich." Stattdessen gilt: Führungsaufgaben werden verteilt. Dabei entstehen Rollen mit unterschiedlichen Zuständigkeiten und Befugnissen. Diese Unterschiedlichkeit zu thematisieren, ist für die einzelnen Teammitglieder herausfordernd: Sie müssen sich einerseits explizit für eine Rolle bewerben und dabei gegebenenfalls gegen Mitbewerbende durchsetzen. Andererseits müssen sie rückmelden, wem sie eine Rolle zutrauen und wem eher nicht.
2. Workshop: Das entstandene "Wir" muss noch gefestigt werden
Im nächsten Workshop starten wir behutsamer. Das Team tauscht sich zunächst zu folgenden Themen aus:
- persönliche Sorgen und Bedenken mit Blick auf Selbstorganisation – etwa die "gerechte" Rollenverteilung
- individuelle Stärken, die die Einzelnen einbringen können und wollen
- individuelle Fähigkeiten, die die Einzelnen im Prozess der Selbstorganisation entwickeln möchten
Mit diesem Start entsteht im Workshop spürbar mehr Vertrauen darauf, dass neben dem "Wir" jetzt auch ein "Ich vs. Du" besprochen werden kann. Auf dieser Grundlage steigen wir neu in die Rollenwahl ein: Diesmal gelingt die Verteilung unterschiedlicher Verantwortungen. Im Ergebnis werden sechs (Führungs-)Rollen definiert. Zusätzlich ergeht an die "Noch-Führungskraft" eine spezielle Rollenanforderung: Sie soll zunehmend als Coach aktiv werden.
Spürbar ist in unserer Zusammenarbeit immer wieder ein besonders hohes Interesse der Teammitglieder am Kennenlernen neuer Methoden. Als Beraterin habe ich gute Erfahrungen damit gemacht, eine Methode erst dann vorzustellen, wenn sich im Prozess tatsächlich der Bedarf dafür ergibt. Nach und nach probieren wir passende Arbeits- und Entscheidungsformate aus – beispielsweise Teamboard, Konsent, Widerstandsabfrage, Konsultativer Fallentscheid. Auf diese Weise erschließen sich Sinn und Nutzen sofort ganz praktisch.
Geeignete Methoden sind für die Selbstorganisation nützlich – sie sichern jedoch nicht den Erfolg. Der ist ganz wesentlich mit dem Bewusstwerden und Bearbeiten von Dynamiken der Zusammenarbeit verbunden. Hier zwei Beispiele:
- Als wir das Thema "Fairness" vertiefen, wird deutlich, dass ein bisher unbearbeiteter Konflikt die Zusammenarbeit in den neuen Führungsrollen erschwert. Wir bearbeiten ihn im Rahmen einer Konflikt-Moderation. In der Folgezeit verläuft die Zusammenarbeit deutlich konstruktiver. In Retrospektiven werden neu auftretende Themen selbstständig bearbeitet.
- Neben den zwischenmenschlichen gibt es auch intra-personelle Dynamiken beim Ausfüllen der neuen Rollen – etwa für die Abteilungsleiterin: Die Noch-Führungskraft muss sich deutlich zurücknehmen und gleichzeitig in die Rolle des Coaches hineinwachsen. Dafür braucht sie u.a. einen neuen Maßstab für die eigene berufliche Zufriedenheit. Diese sehr persönlichen Themen bearbeiten wir im Rahmen von Coaching.
3. Workshop: Die Kommunikation mit der Gesamtorganisation wird proaktiv angegangen
Die Einführung von Selbstorganisation im PE-Team geschieht in einem organisationalen Umfeld, das zunächst weiterhin von klassischen Formen der Führung und Zusammenarbeit geprägt ist. Damit entsteht ein – für die Einführung von New Work durchaus typisches – Nebeneinander von zwei unterschiedlichen Kulturen der Führung und Zusammenarbeit. Der Umgang mit dieser Ambidextrie muss vom Team mitgedacht und proaktiv in Angriff genommen werden. Hilfreich ist dafür, dass das Projekt explizit vom Vorstand des Unternehmens unterstützt wird.
Ab dem dritten Workshop fassen wir nun auch stärker die Kommunikation mit der Gesamtorganisation in den Blick:
- In einem Blog berichtet das Team schon seit einiger Zeit über Erfahrungen und Hürden beim Etablieren der Selbstorganisation.
- Nun laden die Teammitglieder zum Austausch mit Kolleg*innen und Führungskräften benachbarter Bereiche ein. Dabei beobachten sie, dass Mitglieder anderer Teams interessiert nachfragen, während sich die beteiligten Führungskräfte spürbar zurückhalten. Die Vermutung liegt nahe, dass diese sich in ihrer bisherigen Rolle gefährdet sehen. Das Team bittet die Bereichsleiterin um Unterstützung: Sie wird den Führungskräften im Namen des Vorstandes zusichern, dass das Experiment "Selbstorganisation" absehbar nicht auf andere Bereiche ausgedehnt werden soll.
Zwischenfazit: Erste zentrale Learnings haben sich herauskristallisiert
Der Einblick in die Praxis-Werkstatt des PE-Teams sei an dieser Stelle erst einmal beendet. Als zentrale Learnings beim Etablieren von Selbstorganisation haben sich bisher gezeigt:
- Das Erlernen bewährter Methoden schafft Klarheit bei Rollen und Prozessen und unterstützt im Ergebnis die Arbeitsfähigkeit; Methoden allein sichern jedoch nicht den Erfolg von Selbstorganisation.
- Das Sich-Bewusstmachen und Bearbeiten von Fragen der persönlichen Haltung sowie von Dynamiken der Zusammenarbeit im Team ist unentbehrlich und erfordert Kontinuität. Hier kann externe Beratung in besonderem Maße hilfreich sein.
- Der proaktive Blick auf das Einbinden in die Gesamtorganisation unterstützt eine erfolgreiche Einführung – insbesondere im Umfeld klassischer Formen der Führung und Zusammenarbeit.
- Der Prozess der Etablierung von Selbstorganisation ist iterativ. Er erfordert die Bereitschaft zu intensiver Reflexion und ständigem gemeinsamen Lernen.
Last but not least: Mitverantwortung zu stärken, kann auch für Sie als Führungskraft interessant sein
Auch wenn Sie selbst als Führungskraft aktuell nicht vor der Aufgabe stehen, sich zeitnah überflüssig zu machen: Die Frage, wie Sie die Mitverantwortung Ihrer Mitarbeitenden stärken können, dürfte in den meisten Unternehmen derzeit eine Rolle spielen. Denn Mitverantwortung kann – wie eingangs beschrieben – die Bewältigung komplexer Fragestellungen befördern und gleichzeitig die Motivation von Mitarbeitenden stärken.
Zum Schluss also ein paar Fragen an Sie selbst:
- Welche Führungsaufgaben würden Sie gern an Mitglieder Ihres Teams delegieren?
- Welche Entscheidungen, die Sie bisher eher allein getroffen haben, würden Sie gern stärker mit Ihrem Team gemeinsam angehen bzw. ganz an das Team übergeben?
- Was müsste in beiden Fällen berücksichtigt werden, um parallel zum Ausprobieren gleichzeitig eine hohe Arbeitsfähigkeit sicherzustellen?
- Was wäre diesbezüglich für Sie selbst ein guter nächster Schritt?